Der Kinderschutzbund ist besorgt wegen einer steigenden Zahl von Kindeswohlgefährdungen. Platznot, Fachkräftemangel und Überlastung in Jugendämtern gehen laut Experten zulasten der Schutzbedürftigen.
Jugendämter in der Krise – folgenschwer für Kinder in Not
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Immer mehr Fälle von Kindeswohlgefährdung werden bekannt – zugleich fehlt in vielen Jugendämtern Personal. Und die Unterbringungsmöglichkeiten für schutzbedürftige Minderjährige reichen bei weitem nicht. Experten sind besorgt. Sozialpädagogin Gabriele Flößer vom Kinderschutzbund betont: «Ganz deutlich muss darauf hingewiesen, dass angesichts des Personal-, Fachkräfte- und Platzmangels die den Kindern und Jugendlichen zugesicherten Rechte auf Schutz, Förderung und Beteiligung nicht vollumfänglich gewährleistet werden können.»
Laut einer Umfrage des WDR sehen auch viele Jugendämter in Deutschland unzureichende Bedingungen. Auch von Seiten der Gewerkschaften gibt es Kritik und Forderungen an die Politik.
Der Kinderschutzbund sieht gravierende Defizite
Man beobachte mit großer Sorge die seit Jahren steigenden Zahlen zu Fällen von Kindeswohlgefährdung, sagt Flößer, Vorsitzende des Kinderschutzbunds in NRW. Aktuelle Studien zeigten zugleich, dass einzelne Mitarbeitende des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) im Jugendamt viel zu viele Einzelfälle zu bewerten hätten, was Arbeitszeiten überschreite und belaste. Folgen könnten «weniger gelungene Gefährdungseinschätzungen und Dokumentationen» oder Bearbeitungsstaus sein, schildert die Professorin für Sozialpädagogik an der Uni Dortmund der Deutschen Presse-Agentur.
Flößer zufolge ist die Lage der Unterbringungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen unübersichtlich, «weil diese nicht nur von der öffentlichen Jugendhilfe, sondern überwiegend von freien Trägern bereitgestellt werden.» Fakt sei, «dass die Anzahl der Anfragen nach geeigneten Plätzen die vorhandenen deutlich übersteigt und es auch hier zu dramatischen Entscheidungen kommt.»
Die Suche nach freien Plätzen laufe inzwischen bundesweit, sodass Kontakte zur Herkunftsfamilie oder wohnortnahe Aktivitäten nahezu ausgeschlossen seien. «Permanente Beziehungsabbrüche durch eine hohe Fluktuation des Personals erschweren die pädagogische Arbeit darüber hinaus.»
Bei der Kindeswohlgefährdung steigen die Fallzahlen seit Jahren
Mit 63.700 bestätigten Fällen erreichte die Zahl der Kindeswohlgefährdungen im Jahr 2023 laut Statistischem Bundesamt einen neuen Höchststand. Kindeswohlgefährdung kann Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt sein. Tatsächlich dürften die Zahlen aber deutlich höher liegen, da laut Bundesamt nicht alle Jugendämter Daten für 2023 melden konnten – zum Teil auch, weil das Personal dort überlastet war. Im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW hält der steigende Trend ebenfalls an.
Befragung unter Jugendämtern: Kinderschutz gefährdet
Laut einem kürzlich erschienenen WDR-Bericht ist ein Mangel an erfahrenem Personal, Geld und Unterkünften für Kinder in Not eine Realität für viele Jugendämter und stellt eine Gefahr für den Kinderschutz dar. Etwa die Hälfte der 300 befragten Jugendamtsleitungen gab an, dass sie unter den aktuellen Bedingungen nicht immer in der Lage seien, den Kinderschutz angemessen zu gewährleisten. In jedem zehnten Amt kam es bereits aufgrund von Personalmangel, finanziellen Engpässen oder Platzmangel zu einer Gefährdung von Kindern oder Jugendlichen.
Mehr als die Hälfte der Jugendamtsleitungen sprach in der WDR-Befragung für den TV-Beitrag «Jugendämter in Not: Kinder in Gefahr?» (abrufbar in der ARD-Mediathek) von häufiger Überlastung ihrer Mitarbeitenden im ASD. Weil es zu wenig Unterkünfte gebe, müssten Kinder oder Jugendliche manchmal länger als angebracht in ihren Familien bleiben. Einige Behörden gaben dem Sender zufolge an, dass Minderjährige in den Räumen des Amts übernachten mussten.
Nordrhein-Westfalen verweist auf viele Verbesserungen
Im bevölkerungsreichsten Bundesland habe man den Kinderschutz strukturell gestärkt und unterstütze Kommunen und Jugendämter, sagt Familienministerin Josefine Paul auf dpa-Anfrage. Mit dem Landeskinderschutzgesetz habe NRW neue Standards gesetzt, die den Kinderschutz verbessern. «Wir wissen aber auch um die großen Herausforderungen, vor denen nicht zuletzt die Kinder- und Jugendhilfe steht.» Der Fachkräftemangel treffe die Jugendämter stark.
Die Landesregierung unterstütze die für die Jugendämter zuständigen Kommunen auch finanziell und bei der Personalgewinnung, betont eine Ministeriumssprecherin. Ein Beispiel: Im Studium werde der Praxistransfer gestärkt, um Studierende früh an die Arbeit der Jugendämter heranzuführen. Neue Ausbildungs- und Studiengangmodelle seien gemeinsam mit Unis und Jugendämtern in der Entwicklung. Man habe eine Fachkräfteoffensive für Sozial- und Erziehungsberufe «in enger Abstimmung mit allen beteiligten Akteuren» initiiert. Auch zur hohen Qualifizierung von Mitarbeitenden und für verbindliche Qualitätsverfahren seien Maßnahmen in Gang gekommen.
Forderungen kommen auch von Gewerkschaft und Opposition
Verdi moniert: «Familien, Kinder und Jugendliche bekommen nicht die bedarfsgerechte Unterstützung, die sie dringend brauchen.» Der Alltag in den Jugendämtern sei auch von «überbordender Bürokratie geprägt». Für präventive Arbeit bleibe keine Zeit mehr. Die Arbeitsfähigkeit der Jugendämter sei massiv gefährdet, warnt Gewerkschaftssekretär Philipp Stewart.
Die Regierung sollte mit sofortigen Maßnahmen die Arbeitsbedingungen verbessern, um mehr qualifizierte Fachkräfte anzuziehen und langfristig zu halten. Der Kinderschutzbund ist der Meinung, dass eine Fachkräfteoffensive nur erfolgreich sein kann, wenn die Arbeitsbedingungen und Belastungen kritisch überprüft werden. Die FDP-Landtagsfraktion in NRW fordert Entlastung für die Jugendämter. Die Situation wird als katastrophal beschrieben.