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Kontroverse in Türkei – Frauenrechtlerin legt Kopftuch ab

Das Religionsamt in der Türkei sorgt mit umstrittenen Freitagspredigten für Diskussionen. Eine bekannte islamische Frauenrechtlerin schlägt Alarm und legt ihr Kopftuch ab. Was steckt dahinter?

Das Kopftuch ist in der Türkei weiter umstritten, auch abseits von Gebetsstätten wie etwa die Blaue Moschee in Istanbul (Archivbild)
Foto: Emrah Gurel/AP/dpa

«Ich werfe das Kopftuch der Regierung und dem Religionsamt vor die Füße» – mit dieser Erklärung legte die türkische Frauenrechtlerin Berrin Sönmez ihr Kopftuch ab. Jahrzehntelang hatte die 64-jährige gläubige Muslimin das Tuch getragen, nun verzichtet sie aus Protest darauf. Auslöser ist eine umstrittene Freitagspredigt der Religionsbehörde Diyanet von Anfang August. 

Darin heißt es unter anderem, dass Frauen ihre Reize nicht offen zeigen sollten und das Tragen von Kleidung, die den Körper nicht bedecke oder die Figur betone, verboten sei. Und weiter heißt es laut Übersetzung der Diyanet: «Das Erscheinen in unangemessener Kleidung in der Öffentlichkeit oder an offiziellen Orten ist eine Herausforderung selbst für die einfachsten Anstandsregeln.» Wer zu diesem «Verfall von Moral und Anstand» schweige, mache sich mitschuldig. Zudem sei die etwa in Filmen und Medien dargestellte Nacktheit ein Angriff auf die Familie. 

Sönmez warnt vor Kopftuchpflicht

Sie habe sich immer geschworen, sollte das Kopftuch eines Tages Pflicht werden, werde sie es ablegen, so Sönmez. Nun sehe sie diese Gefahr. Vor allem der Hinweis auf die «offiziellen Orte» habe Sönmez aufschrecken lassen. 

Die Türkei ist laizistisch – Staat und Religion sind laut Verfassung getrennt. Vor mehr als 20 Jahren, bevor der heutige Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine AKP an die Macht kamen, waren Frauen mit Kopftuch in der Türkei benachteiligt – sie hatten keinen Zugang zu Universitäten oder staatlichen Einrichtungen. Erdogan hob die Verbote auf.

Keine Karriere ohne Kopftuch?

Frauenrechtlerinnen wie Sönmez befürchten, dass Erdogan den Spieß quasi umdrehen will. Viele finden das irritierend, denn Frauen ohne Kopftuch und mit freizügiger Kleidung sind in Teilen der Türkei allgegenwärtig – ein Kopftuchzwang wie im Iran ist in der Türkei kaum vorstellbar. Darum geht es Sönmez aber auch nicht, wie sie im Gespräch mit der dpa erklärt.

Die Historikerin befürchtet, dass der Druck auf Frauen in Behörden und im privaten Sektor weiter zunehmen wird. Frauen haben bereits berichtet, dass ihnen Karrierechancen verwehrt wurden oder sie sogar entlassen wurden, weil sie kein Kopftuch tragen. Sie glaubt nicht, dass es sich dabei um Einzelfälle handelt. Seit der Einführung des Präsidialsystems im Jahr 2018 handeln die Bürokraten in der Türkei nicht mehr eigenständig. Sönmez wirft der Religionsbehörde eine politische Agenda vor. Sie spricht aus, was die Regierung später umsetzen möchte.

AKP-Politiker verteidigt Religionsbehörde

Die Gründung der Diyanet erfolgte durch den Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, um sicherzustellen, dass der säkulare Staat auch die Kontrolle über den Islam hat. Im Präsidialsystem untersteht das Religionsamt direkt Erdogan und verfügt über ein großzügiges Budget. Die Freitagspredigten werden in den etwa 90.000 Moscheen des Landes verlesen.

Nur vor Kurzem gab es eine weitere Freitagspredigt, die für Diskussionen sorgte, indem suggeriert wurde, dass Mädchen im Gegensatz zu Jungen beim Erbe benachteiligt werden sollten. Dies führte zu einem Aufschrei. Der Behördenchef Ali Erbas, ein Anhänger Erdogans, verstößt gegen die Verfassung, in der Frauen und Männer gleichberechtigt sind, so der Verein zur Förderung der Ideen Atatürks (ADD) in seiner Klage.

Der Vizeparlamentspräsident und ehemalige Justizminister von Erdogans AKP, Bekir Bozdag, verteidigte die Behörde und sagte auf X, sie sei Gegenstand ungerechtfertigter Debatten. Die Predigten seien frei von politischen Ansichten. Sie vermittelten Muslimen lediglich Informationen über islamische Regeln und gäben Ratschläge. Die Religionsbehörde äußerte sich auf dpa-Anfrage zunächst nicht.

Kritik an konservativer Auslegung des Islam

Das Problem sei die zutiefst orthodox-konservative Auslegung der Diyanet, dabei gebe es auch reformistische Ansätze in der Türkei, sagt Sönmez. «Die Religionsbehörde verwendet in ihren Predigten konsequent eine Sprache, die keinen Raum für unterschiedliche Interpretationen zulässt», sagt sie. «Das ist zutiefst falsch.» Außerdem drehten sich zahlreiche Predigten alleine darum, wie sich Frauen verhalten sollten.

Ähnlich sieht das Mehmet Hayri Kirbasoglu, Theologieprofessor an der Universität Ankara. Das Kernproblem liege über die Türkei hinaus in «jahrhundertealten patriarchalischen Interpretationen» des Islam, sagt er der dpa. 

Die Diyanet sollte nach Kirbasoglu eigentlich politisch unabhängig sein und frei von einem von Männern dominierten Monopol bei der religiösen Auslegung. In den 80er Jahren war er Berater bei der Diyanet. Aktuell sei jedoch das Gegenteil der Fall; die Religionsbehörde habe in letzter Zeit eine zunehmend harte Haltung eingenommen und verstärke damit die Polarisierung im Land.

Sönmez wurde für ihre Äußerungen etwa von der regierungsnahen Zeitung Yeni Akit stark angefeindet. Sie erhält aber auch Unterstützung von anderen muslimischen Frauenrechtlerinnen. Für sie persönlich stehe der Glaube im Mittelpunkt, sagt Sönmez. Sie wehre sich dagegen, dass dieser auf den Körper der Frau reduziert werde. «Ich kann sagen, dass ich sowohl für Frauen als auch für meinen Glauben kämpfe.»

dpa