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Letzter Sehnsuchtsort Varanasi: Hier wollen Menschen sterben

Die Pilgerstadt in Indien zieht Touristen aus aller Welt an – und viele Hindus, die Erlösung suchen. Einige von ihnen wollen in einer speziellen Villa sterben.

Sharda Devi wollte in Varanasi im Mukti Bhawan und auf keinen Fall in ihrem Dorf sterben.
Foto: Anne-Sophie Galli/dpa

Als Sharda Devi, eine Inderin, realisiert, dass sie nur noch wenige Tage zu leben hat, zeigt sie sich gereizt. Auch als ihr Sohn Mukesh Tiwari eine Zeremonie mit einer heiligen Kuh in ihrem Dorf im armen Bundesstaat Bihar vorbereitet, um ihr gutes Karma für das nächste Leben zu bringen, schreit sie ihn an. Denn sie hat eine ganz andere Vorstellung von ihrem eigenen Ende.

Sie plant, in Varanasi, der bedeutendsten hinduistischen Pilgerstadt in Nordindien, zu sterben und dann am heiligen Fluss Ganges verbrannt zu werden – eine Tradition, die viele andere Hindus seit Jahrtausenden praktizieren. Dies ist der Glaube, um die endgültige Erlösung zu erlangen, die Hindus als Moksha bezeichnen – das Ende des ewigen Kreislaufs von Wiedergeburten in Millionen von Lebensformen als Mensch und Tier, mit Freude, aber auch Leid.

Mukeshs Sohn erklärt, dass er die wichtigste Person in seinem Leben nicht gehen lassen will. Dennoch setzt er seine bis auf die Knochen abgemagerte Mutter, seine Frau und seine Tochter in eine motorisierte Rikscha und macht sich auf die mehr als fünf Stunden dauernde Reise. Schließlich erreichen sie den Ganges, der laut Sage seinen Ursprung im Himmel hat, und Sharda Devi möchte dort ein Bad nehmen – genauso wie es Hunderte Frauen in bunten Saris und Männer oft in schwarzen Unterhosen zu jeder Tageszeit tun. Sie glauben, dass das Bad im bräunlich gefärbten Fluss sie von Sünden reinigt, obwohl viele Abflüsse von Fabriken hineinlaufen und Menschen dort ihre Wäsche waschen.

Nur wem es schlecht geht, darf bleiben

Zum Schluss reist die Familie weiter durch die Innenstadt mit ihren labyrinthartigen Gassen, in denen es nach frisch frittierten Samosas, Rauch, Müll und dem Mist der vielen frei auf der Straße lebenden Kühe riecht. Und kurz nach Mitternacht erreichen sie endlich ihr Ziel: eine gold- und -türkisfarbene Villa in einem wilden Garten, das Mukti Bhawan – das Haus der Erlösung.

Wer hier ein Zimmer will, muss dem Tod ganz nah sein – und darf in der Regel höchstens 15 Tage bleiben, erzählt der hinduistische Priester Kalikant Dubey, der seit elf Jahren in dem Hospiz arbeitet. «Nur wenn ihr Zustand weiter schlecht bleibt, gebe ich ihnen weitere 15 Tage», sagt der Mann im orange-weißen Gewand. «Sonst müssen sie gehen.» Habe man als Sterbender eingecheckt, dürfe man das Hospiz nicht mehr zeitweise verlassen. Auch Karten- oder Brettspiele, Fleisch, Fisch, Eier, Zwiebeln und Knoblauch sowie das Rauchen seien hier tabu.

Gast Nummer 14.994

Dubey schreibt die Namen aller eintretenden und austretenden Gäste auf. Sharda Devi ist Nummer 14.994. Dubey weist ihr eines der spärlichen Zimmer zu. Dort liegt sie jetzt auf einer dünnen Kunstleder-Matratze auf einer Pritsche. An der himmelblauen und leicht verfärbten Wand über ihr hängen zwei Götterbilder. Durch die beiden kleinen Fenster fällt nur wenig Licht. Es ist Hochsommer und die beiden Deckenventilatoren können die unerträgliche Hitze kaum mildern. Der Schweiß tropft unaufhörlich. Aber Priester Dubey sagt, dass Sterbende keinen Luxus mehr brauchen.

Devi scheint jetzt ruhig zu sein. Mit letzter Kraft berührt sie sanft den Kopf ihrer Enkelin, ihr Sohn gibt ihr einige Tropfen Ganges-Wasser zu trinken. Und kaum hörbar sagt sie: «Ich habe ein Leben im Dienst Gottes geführt. Jetzt hat er mir meinen letzten Wunsch erfüllt.» Tiwari sagt, seine Mutter habe den Armen Essen gegeben und gefastet. Sie habe viel gebetet und nie jemandem etwas zuleide getan.

Sharda Devi stirbt eine Woche nach ihrer Ankunft im Mukti Bhawan. Priester Dubey sagt: «Sie hatte einen guten Tod. Sie konnte bis zuletzt sprechen.»

Trommeln, Gesang und Kerzen

Im Mukti Bhawan hört man zu jeder Tages- und Nachtzeit fromme Gesänge aus einem Lautsprecher im Innenhof. Gelegentlich trommeln und singen auch Priester Dubey und seine drei Kollegen. Sie schwenken Kerzen vor einem Altar, baden kleine Figuren hinduistischer Götter in Ganges-Wasser und ziehen ihnen frische Kleider an.

In die Villa müssen Sterbende mit ihren Angehörigen kommen, die sie pflegen und Essen kochen oder dieses von außerhalb besorgen. Aber der Aufenthalt ist kostenlos. Das war der Wunsch von Jathia Devi, die einst hier lebte und deren reiche Familie das Haus besitzt. Seit ihrem Tod steht die Villa Hindus offen, die auf Moksha hoffen. Sie kommen aus allen Ecken des Subkontinents – seit dem Jahr 1958, sagt Dubey. Nur Menschen aus niedrigen Kasten kommen nicht. Denn diese glauben seiner Meinung nach nicht an das Konzept von Moksha.

Das Kastensystem, obwohl seit Jahrzehnten offiziell abgeschafft, prägt das Leben in Indien. Wenn man in eine hohe Kaste hineingeboren wird, hat man im Leben einen Vorteil. Menschen mit einer niedrigen Kaste haben oft nur die Möglichkeit, die harten Jobs ihrer Vorfahren auszuüben. Dies gilt auch für die sogenannten Doms, die für die Verbrennungen verantwortlich sind, bei denen die Leichen zu Asche werden. Der wichtigste Gott Varanasis – Lord Shiva – soll die Doms zu diesem Schicksal verflucht haben, nachdem einer ihrer Vorfahren versucht hatte, Shivas Frau Parvati einen Ohrring zu stehlen.

«Mein Körper wird ganz heiß und meine Augen brennen», sagt der 37-jährige Dom Bhalu Chaudhary, der Holzscheite auf die Feuer an der Uferpromenade des Ganges legt, seit er die Grundschule abgebrochen hat. «Ich hatte einst viele Träume – aber sie blieben Träume.» Er hofft, dass sein Sohn mal einen besseren Job hat.

Leichen verbrennen im Akkord

In dem von patriarchal geprägten Land sind Totenrituale eine Angelegenheit der Männer. Normalerweise entzünden die ältesten Söhne, Neffen oder andere nahe Verwandte die Flamme am Kopf der Leiche auf dem Scheiterhaufen. Auch Tiwari tut dies bei seiner geliebten Mutter – bereits wenige Stunden nach ihrem Tod, so wie es die Tradition vorschreibt.

Angehörige beobachten. Aber nicht nur sie: Einäscherungen sind öffentlich. Auch andere Menschen genießen die Atmosphäre am Fluss, während die Feuer brennen. Zur gleichen Zeit verkauft ein Mann Limonade, die er in einem orangefarbenen Eimer mit Eiswürfeln trägt. Daneben gibt es Astrologen, Priester und mit Asche eingeriebene Sadhus – asketisch lebende heilige Männer, die ihre Dienste gegen Geld anbieten.

Am Ganges wird in schneller Abfolge verbrannt. Einige Leichen ruhen in weißen Tüchern auf Bahren am Boden. Weiß steht im Hinduismus für Reinheit, Trauer und den Glauben an die Seelenwanderung der Verstorbenen. Hunde suchen neben den Feuern in der Asche nach Knochen. Ziegen meckern. Dom Chaudhary erklärt, dass es zweieinhalb bis drei Stunden dauert, bis eine Leiche zu Asche wird. Anschließend übergeben die Angehörigen sie dem Ganges.

Den Tod akzeptieren

Einige hoffen, dass ihre Vorfahren Moksha erreichen können, wenn sie zwar anderswo verstorben sind, dann aber im Ganges verstreut werden. Sharmila ist mit ihrer Familie und der Asche ihres Vaters und Bruders aus dem fernen westindischen Bundesstaat Maharashtra gekommen. Der Vater ist vor 18 Jahren gestorben, der Bruder vor einem Monat. Sie schütten auch heiliges Wasser über ein mit frischen Blumenkränzen geschmücktes Symbol des Gottes Lord Shiva und beten. «Wir haben bereits zu Hause getrauert», sagt Sharmila. «Jetzt lachen wir mit den Kindern.»

In Varanasi sind Tod und Leben so nah beieinander und für jeden sichtbar wie an wenigen anderen Orten. Man erkennt, dass der Tod ein untrennbarer Teil des Lebens ist und dass man mit seiner Trauer nicht allein ist. Vielleicht kann dies auch helfen, das Unvermeidliche zu akzeptieren. Und vielleicht ist der Tod auch nicht das Ende.

dpa