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Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen nach Corona-Lockdown

Psychische Erkrankungen wie Essstörungen und Depressionen bei jungen Menschen haben nach den Beschränkungen tiefe Spuren hinterlassen. Es ist ein gewaltiges Zukunftsproblem für die Gesellschaft.

Kinder haben nach Experteneinschätzung in der Pandemie besonders unter Einsamkeit gelitten (Symbolbild).
Foto: Paul Zinken/dpa

Binnen Wochen verliert Anna gut zehn Kilo, sie friert ständig, hat Haarausfall, die Füße schlafen ein. «Sie war immer schon schlank, ist dann aber wirklich sehr dünn geworden, hat kaum noch gegessen», erzählt die Mutter über ihre damals 17-jährige Tochter. «Es ging ihr schlecht. Sie wusste, es stimmt etwas nicht, sie brauchte Hilfe.» 

Dann verlief der Prozess glücklicherweise schnell: In einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Rheinland wurde Magersucht diagnostiziert. Einige Wochen später wurde Anna stationär aufgenommen.

Kinder und Jugendliche leiden auch in Nach-Pandemiezeit 

Fünf Jahre nach dem ersten Corona-Lockdown im März 2020 haben die Beschränkungen noch immer bei vielen Kindern und Jugendlichen tiefe Spuren hinterlassen. Die häufigsten psychischen Erkrankungen seien Essstörungen, Depressionen und Angststörungen, berichtet Christine Freitag vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP).

Auch Entwicklungsstörungen – etwa reduzierte Feinmotorik, geringere Sprach- und Konzentrationsfähigkeit vor allem bei den Jüngeren, die nicht in Kita oder Schule gehen konnten, seien einschneidend. «Das kann man nicht einfach so aufholen. Das ist ein gewaltiges Zukunftsproblem für die gesamte Gesellschaft», mahnt die Medizinerin der Uniklinik Frankfurt. 

Essstörungen in beunruhigendem Ausmaß 

Unter den Essstörungen kann Magersucht – in der Fachsprache Anorexia nervosa – gefährlich werden und bei extremem Gewichtsverlust tödlich ausgehen. Aktuelle Zahlen zu Neuerkrankungen gebe es nicht, sagt Beate Herpertz-Dahlmann, die seit Jahrzehnten zu dem Thema forscht. «Wir wissen aber, dass die stationären Aufnahmen erheblich zugenommen haben.» Bei Klinikeinweisungen von jungen Magersüchtigen zwischen 9 und 19 Jahren haben Forschende um die Aachener Medizinerin sehr beunruhigende Erkenntnisse gewonnen – besonders mit Blick auf Kinder.

In der Altersgruppe von 9 bis 14 Jahren – insbesondere bei Mädchen – stiegen die Einweisungen im Jahr 2023 im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 enorm an, nämlich um 42 Prozent. Bei Jugendlichen im Alter von 15 bis 19 Jahren war die Klinikaufnahme von Magersüchtigen im Jahr 2023 um 25 Prozent höher als 2019, berichtet Herpertz-Dahlmann. Die Grundlage ihrer Studie bildeten rund 2,5 Millionen Krankenversicherten-Daten des Verbands der Ersatzkassen (VdEK).

Laut einer Schätzung der VdEK für ganz Deutschland wurden 2023 signifikant mehr junge psychiatrische und psychosomatische Patienten unter 18 Jahren aufgrund von Essstörungen, Depressionen und Angststörungen stationär in Kliniken behandelt als 2019.

Magersucht kann tödlich ausgehen

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) betrachtet Anorexia nervosa als eine der gefährlichsten psychischen Erkrankungen für Kinder und Jugendliche. Symptome können niedriger Blutdruck, Bauchbeschwerden, Mangelerscheinungen bei Unterernährung, hormonelle Veränderungen, Osteoporose, Haarausfall und möglicherweise auch weitere Organe einschließlich des Gehirns umfassen. Oft kann mit ärztlicher und psychotherapeutischer Behandlung ambulant entgegengewirkt werden, jedoch ist in schweren Fällen eine stationäre Behandlung unerlässlich.

Viele Gründe für die hohen Krankheitszahlen

Warum ist der Anstieg vor allem bei Kindern so stark? «Es scheint so zu sein, dass Kinder unter den Einschränkungen besonders gelitten haben. Sie waren in der Pandemie noch stärker vereinsamt als die Jugendlichen», sagt Herpertz-Dahlmann. Der Verzicht auf Verein, sportliche Aktivitäten, Lebensort Schule und Miteinander sei für sie vergleichsweise schlimmer gewesen.

Auch jüngere Kinder haben die Belastungen und Probleme ihrer Eltern zu Hause stärker gespürt als unabhängigere Teenager oder junge Erwachsene, was wahrscheinlich auch Essstörungen begünstigt hat, sagt die ehemalige Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik Aachen. Außerdem hat der Konsum von Social Media bei Kindern zugenommen – und damit auch die Konfrontation mit bedenklichen Schlankheits- oder Körperformidealen und Apps, die Gewichtsabnahme oder exzessives Bodybuilding fördern.

Anzeichen und Symptome einer Magersucht 

Es ist wichtig, Frühsymptome zu erkennen. Plötzliche Umstellung auf strikt vegane oder vegetarische Ernährung, Vermeidung von Süßigkeiten oder ganzen Mahlzeiten sollten alarmieren – genauso wie unzufriedene Kommentare über das eigene Aussehen, dass man zu dick sei, trotz Gewichtsverlust.

«Es kommen Wesensänderungen hinzu. Die Betroffenen werden sehr traurig, ziehen sich zurück, wollen mit anderen nichts zu tun haben, essen nicht mehr mit der Familie.» Bei Jungen ist die Störung der Aachener Expertin zufolge «unter-diagnostiziert».

Schwierig zu erkennen ist auch die „atypische Magersucht“, an der derzeit ebenfalls viele junge Menschen erkranken: Sie verlieren zwar massiv an Gewicht, hatten jedoch zuvor stark zugenommen – auch aufgrund von Bewegungsmangel während der Pandemie – was weniger offensichtlich ist. Sie fallen nicht unter die kritische Schwelle, könnten aber dennoch ähnliche psychische und körperliche Probleme wie Patienten mit Anorexia nervosa haben, erklärt Herpertz-Dahlmann.

Probleme bereiten auch Übergewicht, Adipositas, Binge-Eating

Eine große Gruppe junger Menschen hat zudem unspezifische Essstörungen – die keine bestimmten Kriterien erfüllen, aber gesundheitsschädlich sind. Und bundesweit sind etwa 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen zu dick, zusätzlich 5 Prozent adipös, einige von ihnen wegen einer «Binge-Eating-Störung»: Unkontrolliertes Heißhunger-Essen könne später zu Diabetes, Bluthochdruck oder Herzkrankheiten führen, weiß die Medizinerin aus Aachen. 

Auch Angststörungen und Depressionen weit verbreitet 

Aktuell sei davon auszugehen, dass fünf bis sieben Prozent der Kinder und Jugendlichen Angststörungen haben, ergänzt Wissenschaftlerin Freitag. «Das geht nicht so richtig zurück. Und die Zahlen liegen höher als vor der Pandemie.» Bei den Jüngeren handele es sich auch um Trennungsangst oder übersteigerte Sorge, dass den Eltern etwas passieren könnte. 

Soziale Phobien seien ebenfalls häufiger geworden. «Wenn jemand eher ängstlich veranlagt ist, wegen Schulschließung und fehlender Sozialkontakte aber nicht lernt, mit anderen Kindern zu interagieren, bleibt die korrigierende Übung und Erfahrung aus, die es zur Angstbewältigung braucht. Dann kann sich die Angststörung chronifizieren.» 

Die Medizinerin sieht Depressionen ungefähr wieder auf dem Niveau vor Corona. Die Einschränkungen in Bezug auf Kontakte, Sport und Bewegung führten zu Lustlosigkeit, Antriebsschwäche, Traurigkeit, Schlafproblemen, Müdigkeit oder Unzufriedenheit. Seit der Öffnung der Schulen und Vereine nehmen die depressiven Symptome langsam ab. Professorin Freitag empfiehlt viele soziale Kontakte, Sport und wenig Medienkonsum.

Sorge vor einem Rückfall bleibt nicht aus

Anna hat inzwischen wieder ein normales Gewicht – die einst 48 Kilo bei 1,70 Metern Körpergröße sind unter großen Mühen nun Geschichte. Ihre Periode ist zurück. Das Essen bleibe aber ein schwieriges Thema, sagt ihre Mutter. «Sie isst, weil sie muss. Es wird nach Plan gegessen. Wöchentliches Wiegen ist angesagt.» Neben einer Psychotherapie gibt es Kontrolltermine bei der Klinikärztin. «Es geht ihr gut. Aber die Angst vor einem Rückfall ist schon groß.»

dpa