Der Fund der sterblichen Überreste indigener Kinder versetzte Kanada und die Welt in blankes Entsetzen. Die Gräber liegen in der Nähe ehemaliger Internate, einst geführt von der katholischen Kirche.
Papst will in Kanada um Vergebung bitten
Papst Franziskus ist zu einer schweren und bedrückenden Reise aufgebrochen. Das katholische Kirchenoberhaupt will sich dort einem grauenvollen Kapitel aus der Vergangenheit der Kirche stellen.
Sein Hauptanliegen wird es sein, die Ureinwohner Kanadas um Vergebung für Missbrauch, Gewalt und Erniedrigung zu bitten, den Vertreter der Kirche über Jahrzehnte an Kindern in Internaten begingen. Als Büßer werde er zu den Menschen reisen, um zum «Weg der Heilung und Versöhnung beizutragen», sagte der 85 Jahre alte Argentinier eine Woche zuvor in Rom.
Die Welt erfuhr erst vor etwas mehr als einem Jahr davon, aber die Familien der indigenen Kinder, die niemals wieder nach Hause kamen, ahnten es wohl schon lange. An früheren Internaten tauchten sterbliche Überreste von mehr als 1000 Kindern von Ureinwohnern auf. Kanada stand unter Schock. Und mit einem Mal war das Land, das sich stets auf der richtigen Seite der Geschichte sah, mit einem dunklen Teil seiner Vergangenheit konfrontiert. Die Kirche in Kanada hatte einst über 100.000 indigene Kinder von ihren Familien getrennt und versucht, ihnen ihre Kultur auf brutale Art und Weise auszutreiben.
Von «kulturellem Genozid» ist offiziell die Rede – begangen ausgerechnet im heute so liberalen und vielfältigen Kanada. Die Knochenfunde schlugen den Kanadiern mit voller Wucht ins Gesicht und zwangen das Land, sich mit seinem Umgang mit den Ureinwohnern auseinander zu setzen – und mit der Rolle der katholischen Kirche.
Folgen des «kolonialen Traumas»
Die Visite des Papstes ist für Crystal Fraser, Historikerin an der Universität von Alberta, eine große Chance: «Der Besuch des Papstes in Kanada ist historisch und ein unglaublicher Moment in der anhaltenden Notwendigkeit, in Kanada nach Wahrheit und Versöhnung zu streben», sagt die Angehörige der indigenen Gruppe der Gwichyà Gwich’in. Dies sei die Gelegenheit, weiter an der Heilung der Indigenen von Folgen des «kolonialen Traumas» zu arbeiten.
«Die Reise von Papst Franziskus ist eine sehr gute Sache. Es zeigt, dass das für ihn eine Herzensangelegenheit in einer besonderen Situation mit einer Gemengelage aus der indigenen Kultur, einer westlichen Leitkultur und der Geschichte der Kolonialisierung ist», findet Präventionsexperte Pater Hans Zollner, der als Berater in der Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen sitzt. «Der Papst sucht die Auseinandersetzung mit dem Leid und den Verbrechen, und will Versöhnung.»
Die Internate in Kanada – einem Land, in dem viele Katholiken nicht besonders gläubig sind – existierten seit mehr als 100 Jahren. Ihren Anfang nahmen sie mit einer ersten Schule des Franziskanerordens im 17. Jahrhundert. Ein System entstand erst nach der Gründung der kanadischen Föderation 1867. Die von der Regierung 2008 eingesetzte Wahrheits- und Versöhnungskommission zählte 139 Schulen, die indigene Kinder zwangsweise besuchen mussten. Die letzten wurden 1996 geschlossen, schätzungsweise waren 150.000 Kinder betroffen.
Schüler starben an Krankheiten, Unterernährung, Unfällen
Mit dem System versuchten die kanadischen Siedler, die freien indigenen Völker einzugemeinden, ihnen kulturelle Vorstellungen, Sprache und den Kapitalismus aufzudrängen. Brutale Behandlung und Überfüllung der Institutionen führten dabei zu vielen Todesfällen: Die Schüler starben unter anderem an Krankheiten, Unterernährung oder bei Unfällen. Die Zahl der Opfer liegt der Wahrheits- und Versöhnungskommission zufolge in den Tausenden.
Eine zentrale Rolle spielte die katholische Kirche als Trägerin der Anstalten. Kanadas Premierminister Justin Trudeau – der selbst Katholik ist und das Thema zur Chefsache machte – verlangte eine Entschuldigung des Papstes. Die Reise von Franziskus gilt daher auch als ein politischer Erfolg für die Regierung in Ottawa, die sich die Aussöhnung mit den Indigenen auf die Fahnen geschrieben hat.
Franziskus wird drei Orte besuchen: Edmonton, Québec und Iqaluit im hohen Norden des Atlantiks. Das Programm am Montag in Edmonton in der Provinz Alberta, wo Franziskus zunächst Indigene an einer ehemaligen Internatsschule treffen wird, dürfte auch mit Bedacht am Anfang der Reise stehen. Dass er in seiner Rolle als Staatsoberhaupt der Vatikanstadt Premier Trudeau anders als üblich nicht gleich zu Beginn trifft, zeigt, worauf Franziskus sein Augenmerk hat. Am Ende ist in Iqaluit – der Name bedeutet übersetzt etwa «Ort mit viel Fisch» – ein Treffen mit ehemaligen Internatsschülern geplant.
Auf dem Reiseplan stehen zudem mehrere Treffen mit Vertretern der First Nations, Inuit und Métis. Sie waren bereits Ende März im Vatikan gewesen. Damals bat der Pontifex bereits um Vergebung.
Beobachter werden auch genau darauf achten, wie Franziskus die sechs Tage auf seiner 37. Auslandsreise mit vielen Transfers, neun Reden und zwei Messen vor Tausenden Gläubigen gesundheitlich durchsteht. Noch immer plagt ihn ein Knieleiden. Auf Anraten seiner Ärzte sagte er deshalb die für Anfang Juli geplante Afrika-Reise ab. Oft sitzt er noch im Rollstuhl oder geht kurze Distanzen nur am Stock.
Für Fraser, die selbst eine Großtante in einer der Schulen verlor, kann die erwartete glaubwürdige Entschuldigung des Papstes nur der Anfang sein. Die Fragen und Forderungen an die Kirche gingen nämlich noch deutlich weiter: «Wird sie endlich die Entschädigung in Millionenhöhe zahlen, die sie den Überlebenden der Internatsschulen schulden? Wird sie die Namen und Aufenthaltsorte von Geistlichen und ehemaligen Angestellten herausgeben, die Verbrechen an Internatsschulen begangen haben?», fragte Fraser.