Nach Flugzeugabstürzen dauert es oft quälend lange, bis die Ursache geklärt ist. Beim aktuellen Fall in Indien richten sich die Blicke immer mehr auf die beiden Piloten.
Risiko oder letzte Firewall? Der Faktor Mensch im Cockpit
Nach dem Absturz der Air-India-Boeing mit 260 Toten zweifeln erneut viele Menschen an der Sicherheit der Luftfahrt. Auch wenn die genaue Unfallursache noch nicht geklärt ist, richtet sich das Augenmerk auf die Piloten. Wird der menschliche Faktor im Cockpit zunehmend zum Risiko oder bleiben die Piloten weiterhin die menschliche Firewall gegen katastrophale Unglücke auf lange Sicht? Dazu Fragen und Antworten:
Sind Flugreisen wirklich gefährlicher geworden?
Nein. Statistisch gesehen ist es genau anders herum. Der deutsche Luftverkehrsverband BDL gibt für den zivilen Luftverkehr im Jahr 2024 weltweit 334 Todesopfer an. Dies war zwar ein deutlicher Anstieg im Vergleich zum Vorjahr (80 Tote), lag aber dennoch weit unter den historischen Werten aus den 70er Jahren, als in manchen Jahren mehr als 2.000 Menschen bei Flugzeugunglücken ums Leben kamen.
Da die Passagierzahlen gleichzeitig um mehr als das Zehnfache auf aktuell 4,7 Milliarden gestiegen sind, war das Fliegen im vergangenen Jahr etwa 53 Mal sicherer als noch in den 70er Jahren. Im Vergleich dazu sind allein im deutschen Straßenverkehr im vergangenen Jahr 2.770 Menschen ums Leben gekommen.
Wie ist der Stand der Ermittlungen beim Air-India-Absturz?
Bisher ist bekannt, dass unmittelbar nach dem Start die Treibstoffzufuhr der Boeing 787 durch zwei manuelle Schalter gestoppt wurde und das Flugzeug in ein Wohngebiet abstürzte. Das Wiedereinschalten der Treibstoffversorgung erfolgte zu spät. Obwohl der vorläufige Untersuchungsbericht der indischen Behörden keinen Schuldigen nennt, sind sich der Hamburger Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt und andere einig, dass einer der Piloten die Schalter betätigt haben muss – vermutlich in Selbstmordabsicht.
Auf einer Tonaufnahme ist zu hören, dass die beiden indischen Piloten noch darüber gesprochen haben, wer den Schalter betätigt hat. Unter Berufung auf US-Ermittler berichtet das «Wall Street Journal», dass der jüngere Co-Pilot entsetzt den Kapitän zur Rede gestellt habe. Dieser sei betont ruhig geblieben und habe abgestritten, den Schalter betätigt zu haben.
Ein Sprecher des indischen Ministeriums für Zivilluftfahrt und die indische Behörde für Flugunfall-Untersuchung teilten mit, dass der Bericht der Zeitung über die Piloten einseitig sei. Sie lehnten es ab, ihn weiter zu kommentieren.
Die Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit sieht hingegen wichtige technische und systemische Aspekte noch ungeklärt. Dies gelte beispielsweise für die Arretierungsfunktion der fraglichen Schalter, die möglicherweise nicht korrekt funktioniert habe. «Trotz bekannter Sicherheitsbedenken wurde dieses Bauteil bei Air India weder überprüft noch durch eine verbesserte Version ersetzt.» Für die Piloten steht fest, dass der bisher vorgelegte Bericht keinen eindeutigen Schluss auf eine absichtliche Handlung zulässt.
Wie häufig sind Piloten-Suizide die Ursache von Abstürzen bei Verkehrsflugzeugen?
Sogenannte «erweiterte Suizide», bei denen Verkehrspiloten die ihnen anvertrauten Passagiere und Crew-Mitglieder mit in den Tod reißen, sind sehr selten. Das bekannteste Beispiel ist der Co-Pilot Andreas Lubitz, der 2015 zunächst seinen Kapitän aus der Kabine ausschloss und anschließend den Eurowings-Airbus in die französischen Alpen abstürzen ließ. Von den 150 Insassen überlebte niemand.
Das trifft auch auf die 33 Insassen eines Embraer-Flugzeugs der Airline LAM aus Mosambik zu, die im November 2013 von ihrem suizidalen Piloten zum Absturz gebracht wurden. Ebenso gibt es Gerüchte über den ungeklärten Absturz der MH370 der Malaysian Airlines im März 2014, bei dem 239 Menschen an Bord über dem Pazifischen Ozean verschwanden. Der Flugschreiber der Boeing 777 wurde bisher nicht gefunden.
Könnten Piloten im Cockpit überhaupt ersetzt werden?
Das liegt noch in weiter Ferne. Die Industrie forscht ähnlich wie bei Autos oder Lastwagen an Flugzeugen, die ohne Besatzung fliegen können. Dies soll jedoch vorerst nicht autonom, sondern per Fernsteuerung (Remote) vom Boden aus erfolgen. Mögliche Vorteile wären Kosteneinsparungen beim Personal und längere Flugzeiten für extreme Entfernungen. Ein erster Schritt wäre die Reduzierung auf einen Piloten im Cockpit, was die Europäische Agentur für Flugsicherheit (EASA) jedoch nach einer umfassenden Studie als zu unsicher eingestuft hat.
«Zwei gut ausgeruhte, qualifizierte und ausgebildete Pilotinnen und Piloten im Cockpit bleiben der Goldstandard für einen sicheren Flug», sagt der Präsident der deutschen Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit, Andreas Pinheiro. Allerdings werde die Industrie die Entwicklung weiter vorantreiben. Ungelöste technische Probleme sieht seine Vorstandskollegin Vivianne Rehaag bei der verlässlichen Übermittlung von Daten zwischen der Station und dem Flugzeug. «Das Signal muss absolut sicher und unverfälschbar sein. Das ist aus meiner Sicht derzeit nicht möglich.»
Wie sieht der Arbeitsalltag von Piloten aus?
Seit den 1960er Jahren ist die typische Besatzung in den Cockpits von Verkehrsflugzeugen von fünf auf zwei Mitglieder reduziert worden, die von zahlreichen Computer- und Assistenzsystemen unterstützt werden. Auf sehr langen Strecken sind drei Piloten an Bord. Ein wichtiger Sicherheitsgrundsatz in der Luftfahrt ist die Redundanz der Systeme sowie der steuernden Personen. Der zweite Mensch soll daher mögliche Fehler des anderen ausgleichen.
Wann fliegt die Besatzung eigentlich noch selbst?
Der Beginn sowie die Landung einschließlich des Anflugs liegen in der Verantwortung des vorher festgelegten Piloten. Kapitän und Co-Pilot wechseln sich in der Regel bei der Streckenführung ab, es sei denn, einer von ihnen benötigt zusätzliche Nachweise zur Lizenzverlängerung. Am Boden trägt der Kapitän oder die Kapitänin die ultimative Verantwortung für das Flugzeug.
Der Autopilot wird normalerweise nur auf der Strecke, typischerweise ab einer Flughöhe von rund 1.000 Fuß (300 Meter), aktiviert. Ein moderner Verkehrsjet kann auch automatisch auf dem Leitstrahl des Instrumentenlandesystems landen. Bei extrem schlechter Sicht wählen Piloten in Absprache mit den Lotsen diese Option. Es gelten dann strengere Regeln für Windgeschwindigkeiten und Abstände zu anderen Flugzeugen.
Können Piloten den Auto-Piloten ausschalten?
Es ist jederzeit möglich und manchmal sogar lebenswichtig, wenn beispielsweise vereiste Sensoren falsche Messwerte liefern. Widersprüchliche oder falsche Reaktionen des Systems sind der Hauptfokus der Pilotentrainings im Simulator. Bereits während der Ausbildung bereiten sich Piloten darauf vor, wie sie mit schwierigen Situationen umgehen müssen, indem sie sich einen Instrumentenkasten zurechtlegen.
Als Paradebeispiel ist das «Wunder vom Hudson» bekannt, als der US-Airways-Pilot Chesley «Sully» Sullenberger seinen Airbus A320 mitten in New York auf dem Hudson River notwasserte und sämtliche Passagiere mit dem Leben davonkamen. Kurz nach dem Start hatte Vogelschlag beide Triebwerke des Flugzeugs lahmgelegt.