Menschen, die mit Handy und Streamingdiensten aufgewachsen sind, erleben das physische Suchen und Stöbern in einer Videothek als neue Erfahrung. Warum die Flucht vor dem Algorithmus angesagt ist.
Stöbern statt Streamen: Videothek-Comeback bei der Gen Z?
Junge Leute streamen nur noch, alte Leute sehen fern und hüten ihre DVD-Sammlung. Soweit das Klischee. Doch wie so oft gibt es auch einen Gegentrend. Beispiel: «Format Filmkunstverleih» in Halle (Saale). Dort sieht man erstaunlich viele junge Menschen – und das in einer Videothek!
Wird die Generation Z (Gen Z, also die heute etwa 15- bis 30-Jährigen) auch im Bereich Bewegtbild die 90er Jahre wiederentdecken, die ohnehin gerade so beliebt sind?
Einige junge Erwachsene unterhalten sich an der Theke über Klassiker und seltene Filme, während andere durch die Regale schlendern, um etwas für einen Filmabend zu finden.
Für die 26-jährige Lena Hütter war die Entdeckung der Videothek ein Wendepunkt. «Seit ich das Format entdeckt habe, ist Netflix für mich gestorben», sagt sie. Mittlerweile ist sie Mitglied im Verein, der die Videothek in Halle betreibt. Sie steht gelegentlich hinter dem Tresen und bringt sich bei der Auswahl der Filme ein.
Vom «All-you-can-eat-Buffet» schlecht geworden
Während der Corona-Pandemie entdeckte die Mittzwanzigerin DVDs als eine Form des Eskapismus, der Alltagsflucht. Streamingdienste fühlten sich nun wie ein All-you-can-eat-Buffet an, erzählt sie. «Man bezahlt viel Geld, ist total überwältigt und stellt dann fest, dass man auf die Hälfte allergisch ist.»
Die Videothek hingegen erinnere sie an ein À-la-carte-Restaurant. Hier könne sie gezielt Filme auswählen oder sich Empfehlungen geben lassen. «Hier gibt es keinen Algorithmus, der etwas vorschlägt. Hier bin ich diejenige, die etwas findet.»
Die Videothek in Halle bietet mehr als 19.000 Filme an, was die Auswahl für den Filmabend nicht gerade leicht macht.
«Man vergisst leicht, dass man damals in der Videothek auch viel Zeit damit verbracht hat, etwas Passendes zu finden – nur dass es heute anders wirkt, weil der Vergleichsrahmen sich verändert hat», sagt Manuel Menke, Medienwandel-Experte von der Universität Kopenhagen.
Nostalgie als «Kritik an der Gegenwart»
Tobias Becker, Historiker an der Freien Universität Berlin, sieht in der Wiederentdeckung von Videotheken mehr als eine bloße Sehnsucht nach der Vergangenheit. Nostalgie könne «eine Kritik an der Gegenwart sein», betont er.
In Krisenzeiten scheint die Vergangenheit oft stabiler. «Die 70er Jahre sind in vielem unserer eigenen Gegenwart ähnlich», sagt Becker. Damals zerfielen Gewissheiten und Fortschritt brachte nicht nur Lösungen, sondern auch neue Probleme wie Atommüll. «Nostalgie wurde dann zu einem Vorwurf: “Ihr blickt nur zurück, ihr löst nicht die Probleme der Gegenwart.”»
Die Lust auf analoge Objekte wie DVDs
Ein weiterer Grund für die Attraktivität der Videothek liegt in ihrer Haptik, erklärt Menke. Insbesondere junge Menschen, die mit Streamingdiensten aufgewachsen sind, betrachten das physische Durchsuchen als neue Erfahrung. Viele empfinden moderne Mediengeräte als einheitlich und charakterlos, während analoge Objekte wie VHS-Kassetten oder DVDs emotional aufgeladen sind.
Die Wiederentdeckung der Videotheken sei auch als Reaktion auf die heutige Schnelllebigkeit und als Kritik am Digitalen zu verstehen, meint Medienwandel-Experte Menke. «Menschen haben oft das Gefühl, dass sich Dinge heute schneller ändern, und blicken in eine vermeintlich stabilere Vergangenheit zurück.» Der Mensch habe eine Tendenz, bestimmte Dinge zu vergessen und andere zu romantisieren, ergänzt Menke. Diese selektive Wahrnehmung lasse die Vergangenheit besser erscheinen als sie tatsächlich war.
Gleichzeitig werde Nostalgie auch politisch instrumentalisiert. «Parteien nutzen das Narrativ “Früher war alles besser”, um Menschen in einer unsicheren Gegenwart ein Gefühl von Sicherheit zu geben.»