Ute Lewitzka ist Deutschlands einzige Professorin für Suizidforschung. Sie macht konkrete Vorschläge, wie man mehr Menschen retten könnte.
«Viele Suizide lassen sich verhindern»

Ute Lewitzka ist überzeugt, dass viele Selbstmorde verhindert werden könnten. Die Psychiaterin ist Inhaberin der ersten und einzigen Professur für Suizidforschung in Deutschland an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Das Ziel der von drei Stiftungen finanzierten Professur ist laut Angaben der Goethe-Uni, erfolgreiche Präventionsmethoden aus der systematischen Erfassung von Suiziden und Suizidversuchen abzuleiten.
Rund 10.000 Menschen sterben pro Jahr durch eigene Hand. «Wir wissen ganz viel über Risikofaktoren, sowohl psychische als auch biologische», sagt Lewitzka. «Aber das hilft uns nicht, das Risiko treffsicher vorherzusagen.»
Prognose mit Bluttest?
Tatsächlich hat die Forschung mittlerweile mehrere biologische Faktoren identifiziert, die das Suizidrisiko erhöhen. Dazu gehören beispielsweise Schilddrüsenwerte oder andere Blutparameter. In ihrer Doktorarbeit hat Lewitzka Veränderungen in der Hirnflüssigkeit festgestellt. Psychologische Faktoren sind das Gefühl, nicht dazuzugehören, und das Gefühl, für andere eine Last zu sein.
«Aber das trifft auf viele Menschen zu, ohne dass sie suizidal werden», betont Lewitzka. Daher bleibt die Frage, was die Tat konkret auslöst. Diese Frage stellen sich Hinterbliebene ebenso wie Wissenschaftler. Lewitzka hat mit vielen Menschen gesprochen, die einen Suizidversuch überlebt haben, ebenso wie mit vielen Angehörigen.
Männer besonders gefährdet
«Manchmal kommt es scheinbar aus dem Nichts», sagt die Wissenschaftlerin. Das Umfeld berichte, es habe keinerlei Anzeichen gegeben. Manchmal sei es der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringe.
Die Risikofaktoren, die klar identifiziert wurden, sind: eine Traumatisierung in der frühen Kindheit, eine Depression – und das Geschlecht. Denn der Großteil der Suizidopfer sind Männer. Lewitzka ist der Meinung, dass dies unter anderem auch am männlichen Rollenbild liegt, das keine Schwäche eingestehen will.
Wichtigstes Ziel: Zeit gewinnen
«Wenn jemand akut suizidal ist, ist das Erste, was man tun muss, Zeit zu gewinnen», sagt Lewitzka. «Zwischen Entschluss und Tat liegen im statistischen Mittel zehn Minuten.» Betroffene schildern diese akute Phase wie einen Tunnel, der immer enger wird, später aber auch wieder weiter. Die meisten Geretteten seien froh, überlebt zu haben, berichtet Lewitzka aus ihren Gesprächen. «Manche feiern diesen Tag als ihren zweiten Geburtstag.»
Entscheidender Hebel, in der Akutphase einen Suizid zu verhindern, sei die «Methodenrestriktion», sagt Lewitzka. Sehr viele Menschen hätten «ihre» Methode im Kopf, wie sie aus dem Leben scheiden wollen. «Klappt das nicht, wählt man keine andere.»
Lewitzka schlägt vor, die üblichen Wege zu überdenken: Bahngleise und Hochhäuser besser zu sichern oder Medikamente nur in kleinen Packungen auszugeben. Dadurch können nicht alle Suizide verhindert werden, aber doch eine beträchtliche Anzahl.
Wie reagiert man richtig?
Um das Thema zu umgehen, wenn man einen Verdacht hat, oder eine Drohung zu ignorieren, hält die Expertin für völlig falsch. «Es ist ein Mythos, dass man mit einem Gespräch jemanden erst auf diesen Gedanken bringt oder ihn bestärkt.» Die Botschaft, die man vermitteln sollte, lautet: «Ich mache mir Sorgen. Ich möchte für Dich da sein.»
Suizid-Prävention kann aus Sicht der Professorin nicht früh genug anfangen, mindestens in der Schule – das Thema gehöre in den Lehrplan. «Man lernt, die kompliziertesten Gleichungen zu lösen, aber nicht, wie man seelisch gesund bleibt oder eine gute Beziehung führt», kritisiert die Psychiaterin.
Bundesweites Netzwerk im Aufbau
Lewitzka, geboren 1975, ist zudem Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Bevor sie an den Fachbereich Medizin der Universität Frankfurt wechselte, war sie am Dresdner Uniklinikum tätig.
Sie plant, in Frankfurt ein Deutsches Zentrum für Suizidprävention zu errichten, an dem auch die Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention sowie die European Alliance against Depression beteiligt sind.
Künstliche Intelligenz als Präventionshilfe?
Lewitzka möchte mit ihrer Professur, die von drei Stiftungen finanziert wird, das Thema Suizid in den Fokus rücken, Fachwissen zusammenführen und politischen Einfluss ausüben, um Präventionsprogramme voranzutreiben.
Perspektivisch könnte Künstliche Intelligenz bei der Prävention helfen, glaubt Lewitzka: Eine KI könnte die verschiedenen Parameter für eine Gefährdung «wie in einem 3D-Puzzle» zusammensetzen, um daraus passgenaue Hilfsangebote abzuleiten.