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Weihnachten vor 125 Jahren: Traditionen und Bräuche im Wandel der Zeit

Valerio Bonanno erforscht die Weihnachtsfeier um 1900 und entdeckt deutliche Unterschiede zu heute. Die festlichen Rituale und Geschenke erzählen von vergangenen Zeiten und gesellschaftlichen Konventionen.

Schon länger hat Valerio Bonanno seine Wohnung mit Möbeln aus der Kaiserzeit eingerichtet und trägt nur Kleidung von damals - jetzt hat er erstmals auch ein Weihnachtszimmer aus der Epoche um 1900 nachgestellt.
Foto: Thomas Banneyer/dpa

Es gibt zwei Dinge, die im Weihnachtszimmer von 1900 sofort ins Auge fallen. Zum einen ist der Weihnachtsbaum so klein, dass er auf einem Tisch steht. Und zum anderen sind die Geschenke unverpackt, dafür aber hübsch drapiert. Weihnachten vor 125 Jahren – «da gibt’s schon einige deutliche Unterschiede zu heute», sagt Valerio Bonanno. Er muss es wissen, denn er lebt seit Jahren in einer Wohnung, die wie zu Kaisers Zeiten eingerichtet ist. In seiner Freizeit trägt und sammelt er zudem mit Vorliebe Original-Kleidung aus der damaligen Zeit.

Mit streng nach hinten gegeltem Haar, einer Goldrandbrille und einem gepflegten Schnurrbart könnte Valerio Bonanno direkt einem alten Porträtbild mit Jugendstil-Rahmen entsprungen sein. Doch er sitzt ganz real hier in seiner Wohnung in einem denkmalgeschützten Kölner Gründerzeithaus. In letzter Zeit hat sich der 33-Jährige intensiv mit der Frage beschäftigt, wie man um 1900 in Deutschland Weihnachten gefeiert hat.

1918 blieb der Gabentisch fast leer

Aufschluss darüber geben unter anderem die Fotos von Anna und Richard Wagner. Von 1900 bis 1942 fotografierte sich dieses kinderlose Ehepaar aus Berlin immer an Heiligabend per Selbstauslöser mit Weihnachtsbaum und Geschenken. Die Bilder spiegeln das Auf und Ab ihres Lebens: Im Dezember 1918 zum Beispiel, als der Erste Weltkrieg gerade zu Ende war, blieb der Gabentisch fast leer. Auf dem Bild von 1927 dagegen präsentieren sie stolz einen hochmodernen «Progress»-Staubsauger. 1940 wiederum bibbern sie im Wintermantel – es herrscht kriegsbedingte Kohlenknappheit.

Es wäre undenkbar gewesen, den Baum bereits Anfang Dezember aufzustellen. Sein großer Auftritt war zur Bescherung an Heiligabend und er blieb oft noch wochenlang stehen.

Ein Unterschied zu heute ist auch, dass die Rollen der jeweiligen Familienmitglieder damals noch viel klarer durch gesellschaftliche Konventionen vorgegeben waren. So war es dem Vater vorbehalten, die Kerzen am Weihnachtsbaum zu entzünden und mit dem Weihnachtsglöckchen zur Bescherung zu läuten. Die Mutter sorgte für das Essen. Die Kinder trugen Gedichte vor oder sangen. In bürgerlichen Familien wurde musiziert. «Es war fast eine Art Schauspiel, das da aufgeführt wurde», ist Valerio Bonanno überzeugt.

An Heiligabend durfte noch kein Fleisch auf den Tisch

Der Charakter des Festes war in den meisten Familien auch noch viel religiöser. «Spannend ist: Die Adventszeit war Fastenzeit», sagt Bonanno. Deshalb durfte man an Heiligabend auch noch kein Fleisch essen. «Ein klassisches Weihnachtessen war Karpfen. Erst am Weihnachtstag kam die Gans auf den Tisch.»

Was den Baum selbst betraf, so war er durchweg kleiner als heute. Christbaumkugeln, Lametta und anderen Schmuck gab es schon zu «Kaisers Zeiten», darunter auch Anhänger mit dem Porträtbild von Wilhelm II. – Valerio Bonanno besitzt einen, auch wenn er keinerlei politische Sympathien für das damalige autoritäre System hegt. Sogar elektrische Lichterketten waren um 1900 schon zu erwerben. «Sie waren extrem teuer – das war nur etwas für die reichsten Familien.»

Die Geschenke auf Bonannos Gabentisch sind allesamt Originale aus der Zeit: Die Handschuhe sind auffällig dünn – sie dienten nicht als Kälteschutz, sondern dazu, die Hände sauber zu halten und Eleganz auszustrahlen. Schuhe waren damals im Verhältnis teurer als heute, aber auch langlebiger – genauso wie Kleidungsstücke oft ein Leben lang getragen wurden. Was Nachhaltigkeit betrifft, war das Kaiserreich bereits fortschrittlich. Auch importierte Erwachsenen-Rollschuhe aus Metall aus Amerika stehen auf Bonannos Gabentisch.

Für Valerio Bonanno hat sich Weihnachten entzaubert

Er selbst wird das Fest nicht in seinem originalgetreu eingerichteten Weihnachtszimmer verbringen. Er stammt gebürtig aus Sizilien und wird an Heiligabend zu einem Familientreffen in der Nähe von Mailand fliegen. Was findet er nun schöner – Weihnachten 2025 oder Weihnachten 1900? «Auf jeden Fall leide ich sehr unter der Entzauberung der Welt», sagt er. Nach seinem Eindruck hat das Fest an Tiefe verloren, «und das ist durch Konsum, durch Produkte ersetzt worden. Das bedaure ich schon sehr.»

dpa