Millionen Menschen können nicht ausreichend lesen und schreiben. Das Problem betrifft jeden Fünften zwischen 16 und 65 Jahren und hat negative Auswirkungen auf Beruf, Alltag und Gesundheit.
Analphabetismus in Deutschland: Scham, Hilflosigkeit und Überforderung
Scham, Hilflosigkeit und ständige Überforderung sind für mehrere Millionen Menschen in Deutschland Alltag: Sie haben Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben.
Obwohl es mehr ältere und zugewanderte Menschen in Deutschland gebe, stagnierten diese Zahlen, sagt Nicole Pöppel vom Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung. Sie spricht von «einem guten Zeichen».
«Das Problem wird aber nachwachsen», mahnt Pöppel am Weltalphabetisierungstag. Gerade Deutschland sei auf gut ausgebildete Fachkräfte angewiesen, sagt Sabine Uehlein, Geschäftsführerin Programme der Stiftung Lesen in Mainz.
Wie viele Menschen können nicht gut lesen und schreiben?
Etwa 20% der Personen im Alter von 16 bis 65 Jahren in Deutschland haben Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Dies betrifft ungefähr 10,6 Millionen Menschen. Die Daten stammen aus der LEO PIAAC 2023-Sonderanalyse der Universität Hamburg.
Wer ist vor allem betroffen?
Besonders häufig sind Männer betroffen, vor allem ältere und zugewanderte Menschen in erster Generation, sagen Fachleute. «Migration selbst ist nicht der ausschlaggebende Faktor für geringe Literalität, sondern der ökonomische Status ist entscheidend», stellt die Stiftung Lesen dazu fest.
Was bedeutet das für die Menschen?
«Fehlende Lesekompetenz wirkt sich negativ auf Berufschancen, das Selbstbild der Menschen und ihre Beteiligung am gesellschaftlichen Leben aus», sagt Uehlein. Nicht richtig lesen und schreiben zu können, habe nicht nur negative Auswirkungen auf Beruf und Karrierechancen, sondern auch auf den ganz normalen Alltag. Dazu kämen Probleme, sich im komplexen Gesundheitssystem zu orientieren. Sie seien auch stärker von Fake News betroffen – und fühlen sich häufiger politisch abgehängt.
Wie viele Kinder haben Probleme mit dem Lesen?
Ein Viertel der Kinder kann der Stiftung Lesen zufolge am Ende der Grundschule nicht ausreichend gut lesen. «Wir sehen schon im Grundschulalter, wie sehr Bildungserfolg der Kinder vom Elternhaus abhängig ist», berichtet Uehlein.
Ein ganzes Lernjahr betrage der Vorsprung bei der Lesekompetenz, den Kinder aus formal besser gestellten Familien gegenüber Kindern aus sozial schwierigeren Verhältnissen am Ende der Grundschule hätten. Die Zahlen stammten von 2021. Schlechter habe in dem Bericht der Wubben Stiftung Bildung international nur Bulgarien abgeschnitten. «Wer nicht lesen kann, kann sich auch kein Wissen aneignen», sagt Uehlein.
Hilft die AlphaDekade Erwachsenen?
Die Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung (AlphaDekade), die im Jahr 2016 ins Leben gerufen wurde und vom Bundesbildungs- und Forschungsministerium geleitet wird, hat laut Pöppel viel erreicht. Das Ziel ist es, den funktionalen Analphabetismus bei Erwachsenen zu reduzieren und das Grundbildungsniveau zu steigern. Bis 2026 sind für die AlphaDekade rund 180 Millionen Euro vorgesehen.
Viele der Projekte seien jedoch bereits beendet oder kurz davor. Ein Beispiel dafür ist das Alfa-Mobil, wie Pöppel erwähnt. Es hat an verschiedenen Orten in Deutschland Station gemacht, um über die Bedeutung von Analphabetismus aufzuklären und entsprechende Angebote zu machen. Pöppel ist der Meinung, dass es nicht bei einem AlphaDekade bleiben sollte, und hofft, dass Bildungsministerin Karin Prien (CDU) das Programm weiterführt.
Warum können nicht alle Schüler gut lesen?
«Lesekompetenz ist kein festes Merkmal, sondern das Ergebnis unterschiedlicher Voraussetzungen», heißt es bei der Stiftung Lesen. Denn die Grundlagen fürs Lesenlernen würden schon weit vor der Grundschule gelegt. Die Stiftung hat drei Lebensläufe entwickelt, um zu zeigen, woher die größten Probleme kommen.
Wie kommt es dazu?
Die fiktiven Kinder heißen Emil, Kim und Farid. «In den Lebensläufen geht es nicht um Vorwürfe», betont Sprecherin Laura Trost. «Wir wollen zeigen, wie Leben passiert, selbst wenn alle Beteiligten nur das Beste für die Kinder wollen.»
- Emil steht für jedes dritte Kind in Deutschland, dem zu Hause aus unterschiedlichen Gründen nicht oder nur selten vorgelesen wird. In seiner Kita fehlt die Zeit für eine strukturierte, alltagsintegrierte Sprachförderung. Emil fällt das Lesenlernen in der Schule schwer, es macht ihm keinen Spaß, es wird nicht geübt und bleibt damit schwer für ihn.
- Kim wächst bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf, die selbst kaum Unterstützung und nur wenig Zeit hat, ihrer Tochter zu helfen. Für Bücher fehlt das Geld, für Besuche in der Bücherei die Zeit. Das Grundschulkind bräuchte Unterstützung außerhalb des Unterrichts, dafür mangelt es aber den Lehrkräften an Zeit und Ressourcen.
- Farid ist im Schulalter nach Deutschland gekommen, die Sprache spricht er noch nicht. Gezielte Unterstützung gibt es an seiner Grundschule nicht. Das sei an der Hälfte der Grundschulen in Deutschland so, berichtet die Stiftung Lesen und verweist auf einen Bericht der TU Dortmund. Dazu kommen kulturelle Unterschiede: Die Mitarbeit der Eltern werde in Deutschland erwartet, in Farids Heimat nicht. Es entstehen Missverständnisse.
Wie können Kinder beim Lesen besser unterstützt werden?
Die politische Forderung der Stiftung lautet, dass frühkindliche Bildung gestärkt und Investitionen in Kitas und Schulen deutlich erhöht werden müssen. Jeder kann bei der Leseförderung nach seinen Möglichkeiten helfen, zum Beispiel als ehrenamtlicher Lesepate. Die Stiftung stellt kostenfreie Materialien und Projekte dafür zur Verfügung.