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Die bewegte Geschichte der „Völkerfreundschaft“ – ein Schiff zwischen Kollisionen, Urlaubsträumen und Schicksal

Vom dramatischen Schiffsunglück mit der „Andrea Doria“ über spektakuläre Fluchtversuche bis hin zur finalen Verschrottung – das einstige DDR-Traumschiff „Völkerfreundschaft“ blickt auf eine einzigartige Karriere zurück. Jetzt endet sie – nach 77 Jahren.

Foto: Von Autor/-in unbekannt - http://evtp.ru/index.php?mact=News,cntnt01,detail,0&cntnt01articleid=45&cntnt01origid=62&cntnt01returnid=62, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=82019275

Ein schwimmendes Stück Geschichte

Als das Passagierschiff Stockholm 1948 in Schweden vom Stapel lief, ahnte noch niemand, dass dieses Schiff sieben Jahrzehnte später auf eine der abwechslungsreichsten und faszinierendsten Karrieren der Schifffahrtsgeschichte zurückblicken würde. Gebaut von der Götaverken-Werft in Göteborg für die Swedish American Line, wurde es zunächst im Transatlantikverkehr eingesetzt. Mit 160 Metern Länge und Platz für rund 400 Passagiere war die „Stockholm“ ein stattlicher, aber für damalige Verhältnisse noch eher schlanker Ozeandampfer – gedacht für die Route Göteborg–New York.

Tragödie auf See: Die Kollision mit der Andrea Doria

Am 25. Juli 1956 wurde das Schiff über Nacht weltberühmt – und berüchtigt. Auf der Heimreise nach New York kollidierte die „Stockholm“ im dichten Nebel vor Nantucket mit dem italienischen Luxusliner Andrea Doria. Das Unglück forderte insgesamt 51 Menschenleben, darunter 5 Besatzungsmitglieder der Stockholm. Die Andrea Doria sank, die Stockholm konnte schwer beschädigt gerettet werden. Die Bilder vom aufgerissenen Bug gingen um die Welt. Der Vorfall markierte einen Wendepunkt in der Schiffssicherheit und machte die Stockholm zum bekanntesten Passagierschiff Schwedens.

Von Stockholm zu Völkerfreundschaft: Ein neuer Name, ein neues System

1960 kaufte der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) der DDR das Schiff für rund 20 Millionen Schwedische Kronen. Fortan fuhr es als MS Völkerfreundschaft unter DDR-Flagge und diente Tausenden DDR-Bürgern als Urlaubstraum auf See. Ziele waren vor allem das Mittelmeer, das Schwarze Meer oder Kuba – eine politische und touristische Geste zugleich. Das Schiff wurde innen renoviert, technisch aufgerüstet und zum ersten Urlauberschiff der DDR umfunktioniert. Für viele war es das Tor zur Welt – ein Privileg, das nicht allen zuteilwurde.

Spektakuläre Flucht 1968: Seilriss und Kollision mit Bundesmarine

Ein besonders spektakulärer Vorfall ereignete sich am 13. April 1968, einem Ostersamstag. Im Fehmarnbelt versuchte ein Passagier, durch das Bullauge seiner Kabine zu fliehen. Er seilte sich in der Nacht mit einem vorbereiteten Tau ab – doch das Seil riss. Der Mann stürzte in die Ostsee. Zufällig war das Torpedofangboot Najade der Bundesmarine ganz in der Nähe. Die Besatzung hatte zuvor von den in der BRD lebenden Eltern des Mannes einen Hinweis auf die geplante Flucht erhalten. Gemeinsam mit dem Schwesterschiff Triton war die Najade zur „taktischen Nahaufklärung“ unterwegs. Nach einem abrupteren Wendemanöver zur Rettung des Flüchtlings kollidierte die Najade versehentlich mit der Völkerfreundschaft, die nur leicht beschädigt ihre Fahrt fortsetzen konnte. Später fand die Stasi in der Kabine des geflohenen Passagiers einen Kompass und westdeutsche Seekarten – ein klarer Hinweis auf die gezielte Fluchtplanung. Der Vorfall galt lange als brisantes Beispiel deutsch-deutscher Seespannung.

Kollision mit einem U-Boot

Auch 1983 kam es erneut zu einem folgenreichen Zwischenfall: Am 21. Januar kollidierte die Völkerfreundschaft bei schlechter Sicht nahe dem Feuerschiff Fehmarnbelt mit dem westdeutschen U-Boot U 26 der Bundesmarine. Beide Schiffe konnten ihre Fahrt fortsetzen, der Vorfall wurde jedoch geheim gehalten und erst Jahre später publik. Auch hier stand das Schiff ungewollt im Fokus der politischen Spannungen auf See.

Neustarts unter wechselnden Flaggen

Nach dem Ende der DDR wurde das Schiff 1985 an private Eigner verkauft. Es folgten zahlreiche Umbauten, Modernisierungen und Namenswechsel: „Volker“, „Italia I“, „Valtur Prima“, „Caribe“, „Athena“, „Azores“ – kaum ein Schiff wurde öfter umgetauft. Mal fuhr es als Kreuzfahrtschiff, mal als Hotelschiff, dann wieder als klassischer Passagierdampfer auf kleinen Mittelmeerrouten. Die Technik wurde überholt, der Bug neu geschweißt – doch der Rumpf und die Seele blieben die der alten Stockholm.

Letzte Jahre als „Astoria“ und das traurige Ende

Zuletzt fuhr das Schiff unter dem Namen MV Astoria für Cruise & Maritime Voyages. Doch die Corona-Pandemie 2020 traf die Branche hart: Die Reederei meldete Insolvenz an, die Astoria wurde aufgelegt und wartete jahrelang auf eine neue Zukunft. Doch kein Käufer fand sich. 2024 wurde das Schiff schließlich versteigert – für einen symbolischen Preis von rund 200.000 Euro. Im Juni 2025 begann die Verschrottung im belgischen Hafen Gent. 97 Prozent der Materialien sollen recycelt werden.

Ein Schiff, das Zeitgeschichte schrieb

Die Geschichte der Stockholm/Völkerfreundschaft/Astoria ist nicht nur die Biografie eines Schiffs, sondern ein Kapitel europäischer Geschichte: vom transatlantischen Aufbruch über ideologisch aufgeladene DDR-Ferienreisen bis zu dramatischen Kollisionen mit U-Booten und Fluchtgeschichten aus der geteilten Nation. Mit ihrem Ende verschwindet ein Symbol – aber die Geschichten, die sie schrieb, bleiben.

TS
Quellen: ndr.de, wikipedia.de, bild.de