Die Bundesregierung hat in Brüssel immer Druck für scharfe Schuldenregeln gemacht. Jetzt hat sie womöglich selbst ein Problem.
EU-Schuldenregeln: Muss Lindner Brüssel um Aufschub bitten?
In Brüssel wird der deutsche Finanzminister normalerweise als Befürworter strenger Ausgabenregeln für die Hauptstädte angesehen. Allerdings drohen jetzt ausgerechnet Christian Lindner (FDP) Probleme mit den EU-Schuldenregeln, die er selbst so hart ausgehandelt hat. Einer der Gründe sind die gedämpften Erwartungen bezüglich der Entwicklung der deutschen Wirtschaft.
Wie es im Finanzministerium heißt, erwägt die Bundesregierung, bei der EU-Kommission um mehr Zeit für die Anpassung ihrer Ausgaben zu ersuchen. Anstelle eines Vierjahresplans könnte Deutschland dann einen siebenjährigen Haushaltsplan aufstellen.
Welche Vorgaben hat die EU Deutschland gemacht?
Die Europäischen Schuldenregeln gelten für alle Mitgliedsländer der EU. Das Regelwerk, auch Stabilitäts- und Wachstumspakt genannt, schreibt unter anderem vor, dass der Schuldenstand eines Mitgliedstaates 60 Prozent der Wirtschaftsleistung nicht überschreiten darf. Gleichzeitig muss das gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit unter drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gehalten werden.
Wer die Grenzen überschreitet, setzt sich einem Strafverfahren aus. Länder mit einer Verschuldung von über 90 Prozent müssen ihre Schuldenquote jährlich um einen Prozentpunkt senken, während Länder mit einer Verschuldung zwischen 60 und 90 Prozent um 0,5 Prozentpunkte senken müssen. Deutschland befindet sich derzeit in der zweiten Kategorie: Das Finanzministerium ging im Juni davon aus, dass die Schuldenquote dieses Jahr bei etwa 64 Prozent liegen wird.
Um sicherzustellen, dass die Finanzen solide sind, müssen alle Länder zusammen mit der EU-Kommission einen vierjährigen Haushaltsplan erstellen. Dieser sollte eigentlich bis Mitte Oktober bereits vorgelegt worden sein. Deutschland hat dies jedoch – wie viele andere Länder auch – noch nicht getan. Es wurde betont, dass man in Kontakt mit der Brüsseler Behörde stehe.
Warum will Deutschland jetzt mehr Zeit?
Vier Jahre könnten für Deutschland nicht ausreichen, um die Brüsseler Vorgaben zu erfüllen. Das will Lindner aber unbedingt. Denn er meint, die Bundesrepublik müsse in der EU Vorbild und «Stabilitätsanker» sein, damit sich andere Länder nicht noch höher verschulden.
Lindners Hauptproblem: Es ist nicht mehr ausreichend, dass Deutschland seine eigene, im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse einhält. Die EU betrachtet die Tragfähigkeit eines Landes langfristig und berücksichtigt bei ihren Vorgaben beispielsweise auch die Alterung der Gesellschaft, den Mangel an Arbeitskräften und die Wirtschaftsprognosen. Deutschland schneidet hier schlecht ab: Selbst bei optimaler Auslastung der Wirtschaft wird langfristig nur ein geringes Wachstum erwartet.
Zweites Problem: Weil 2024 mit seiner schlechten Konjunktur und dem geplanten Nachtragshaushalt ein höheres Defizit bringt als ursprünglich erwartet, ist der akute Anpassungsbedarf an die EU-Vorgaben überraschend groß. Es wäre also noch mehr Sparen angesagt, und zwar nicht nur im Bund, sondern womöglich auch in den Ländern und Gemeinden. «Möglicherweise muss die gesamtstaatliche Finanzpolitik doch ambitionierter sein», sagte der Vorsitzende des unabhängigen Beirats des Stabilitätsrats, Thiess Büttner, kürzlich der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung».
Was würde Deutschlands Antrag auf mehr Zeit bedeuten?
Wenn Berlin beantragen würde, anstelle eines vierjährigen Haushaltsplans einen für sieben Jahre aufzustellen, wäre dies gemäß den EU-Schuldenregeln kein Verstoß. Denn diese gestatten eine Erweiterung unter bestimmten Voraussetzungen – beispielsweise wenn ein Land sich zu wachstumsfördernden Reformen und Investitionen verpflichtet. Deutschland müsste dies nachweisen, um eine Verlängerung zu erhalten.
Wie ist die Lage in anderen Ländern?
Andere Länder haben die zu strengen Schuldengrenzen immer wieder kritisiert – unter anderem, weil sie Investitionen in die grüne Transformation behindern könnten. Darüber hinaus haben einige Länder viel höhere Schuldenquoten als die Bundesrepublik. Die höchsten Schuldenquoten wurden laut Daten des EU-Statistikamtes Eurostat 2023 in Griechenland, Italien, Frankreich, Spanien und Belgien verzeichnet. Einige Länder haben in den letzten Wochen und Monaten bereits angekündigt, der EU-Kommission einen siebenjährigen Haushaltsplan vorlegen zu wollen.
Lindner hatte sich dazu noch letzte Woche – als man seinen Angaben nach in Berlin den Haushaltsplan noch vorbereitete – bei einem Treffen mit seinen EU-Amtskollegen in Luxemburg leicht kritisch geäußert: «Wir sehen, dass andere Mitgliedstaaten sich bereits entschieden haben für eine siebenjährige Periode.» Er sei überzeugt, es brauche Ehrgeiz, um die öffentlichen Finanzen in Ordnung zu halten oder zu bringen. «Und deshalb kann ich alle nur ermuntern, strukturelle Reformen einzuleiten und vielleicht auch bisweilen unpopuläre Entscheidungen zu treffen.»
Was bedeutet die Lage für den Bundeshaushalt – und auch für Länder und Kommunen?
Ohne Verzögerung müssten Bund, Länder und Gemeinden im nächsten Jahr zusätzliche Einsparungen vornehmen, um das Ausgabenwachstum auf den in Brüssel festgelegten Wert zu reduzieren. Angesichts der bereits schwierigen Haushaltsverhandlungen, bei denen jeder Euro im Bundestag umgedreht wird, dürfte dies eine Herausforderung darstellen.
Lindner gibt jedoch gleichzeitig neue Druckmittel in aktuellen Ampel-Debatten um die Rente und das geplante Wachstumspaket. Diese Initiative mit Steuererleichterungen für die Wirtschaft, Arbeitsanreizen und günstigem Strom für die Industrie dürfte nun noch wichtiger werden. Denn die Bundesregierung geht davon aus, dass die Maßnahmen die langfristige Wirtschaftsentwicklung positiv beeinflussen. Damit steigt der Druck auf die Länder, im Bundesrat zuzustimmen und Einbußen bei den Steuereinnahmen zu akzeptieren.