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Die Gläserne Klippe: Warum Frauen in Führungspositionen bei Krisen bevorzugt werden

Die Wahrscheinlichkeit für Frauen in Führungspositionen bei Unternehmen in Krisen steigt laut Experten auf 7,6 Prozent im Vergleich zu 5 Prozent in stabilen Situationen.

Evelyn Palla leitete bisher die Bahnsparte DB Regio - und wird nun Chefin der Deutschen Bahn als erste Frau in der Konzerngeschichte. (Archivbild)
Foto: Andreas Gora/dpa

Evelyn Palla folgt auf eine lange Reihe von männlichen Vorstandsvorsitzenden bei der Deutschen Bahn, darunter Hartmut Mehdorn, Rüdiger Grube und Richard Lutz. Experten betrachten sie als Beispiel für die Theorie der Gläsernen Klippe, wonach Frauen eher in Führungspositionen berufen werden, wenn Unternehmen in einer Krise, sei es finanziell oder durch einen Skandal.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen in Führungspositionen berufen werden, steigt laut dem Mannheimer Betriebswirtschaftler Max Reinwald in finanziellen Krisen um rund 50 Prozent im Vergleich zu Unternehmen in stabilen Situationen. Der Anstieg erfolgt jedoch von einem niedrigen Niveau aus: Grundsätzlich beträgt die Chance für Frauen, in Führungspositionen berufen zu werden, 5 Prozent – in einer Krisensituation steigt diese auf 7,6 Prozent.

«Die Bahn ist seit Jahren in der Krise. Es ist auch nicht absehbar, dass eine spürbare Besserung sehr schnell eintritt», sagt Reinwald. «Und das Verkehrsministerium war natürlich auch unter Druck und möchte zeigen: ,Okay, wir sind dran, wir ändern da was.’» 

Unternehmen wollen Signal der Veränderung senden

Laut Reinwald ist das Ziel der Gläsernen Klippe, dass Unternehmen in der Krise ein Signal senden, dass sie auf Veränderung setzen möchten – besonders erfolgreich sei dies bei Unternehmen mit ausschließlich männlichen Chefs wie der Bahn, so der Wissenschaftler. Der Effekt der Gläsernen Klippe verstärke sich auch mit der öffentlichen Sichtbarkeit eines Unternehmens, erklärt Reinwald. Je mehr mediale Aufmerksamkeit ein Unternehmen erhalte, desto ausgeprägter werde der Effekt.

Palla wurde in dieser Woche vom Aufsichtsrat der Deutschen Bahn zur neuen Chefin des Konzerns ernannt. Sie leitete bisher die Regionalverkehrssparte der Bahn.

Mehr als 26.000 Wechsel in Führungspositionen ausgewertet

Reinwald hat nach eigenen Angaben zusammen mit zwei Kollegen der Universität Konstanz 26.156 Wechsel in Führungspositionen von US-Unternehmen, die an der Börse notiert sind, in den Jahren 2000 bis 2016 analysiert. Obwohl nur 7,4 Prozent der Wechsel Frauen betrafen, ist das Ergebnis laut Reinwald aufgrund der hohen Gesamtzahl der analysierten Wechsel aussagekräftig. Er ist der Ansicht, dass die Ergebnisse grundsätzlich auch auf Deutschland übertragbar sind.

Die Hypothese, dass Konzerne lieber Frauen berufen, weil die Männer in Krisensituationen nicht gewollt hätten, hält der 36-Jährige nicht für haltbar. «Ich würde mal vermuten, dass es bei der Bahn einige Männer gegeben hat, die bereitgestanden wären.»

Gläserne Klippe stärker vor und nach der Frauenquote

Jürgen Wegge, Arbeits- und Organisationspsychologe von der Technischen Universität Dresden, erkennt auch in Deutschland das Phänomen der Gläsernen Klippe – jedoch abhängig vom gesellschaftlichen Kontext. Während zwischen 2011 und 2015 viel über das Thema Frauenquote in den Medien berichtet wurde, war der Effekt schwächer. «Der Gedanke ist, wenn eben sehr viel über das Phänomen und Quoten und Frauen in Führungspositionen geredet wird, hat die Benennung einer Frau nicht mehr diese Signalwirkung, dass man als Organisation aus der Krise hinaus will und dafür viel ändert», sagt Wegge.

Frauenanteil in Aufsichtsräten zuletzt gesunken

Die Organisation Frauen in die Aufsichtsräte (Fidar) sieht noch einen anderen möglichen Grund für die Gläserne Klippe: «In Krisensituationen müssen oft harte Entscheidungen getroffen werden, die sich auch gegen die etablierten Strukturen im Unternehmen richten», sagt Präsidentin Anja Seng. «Vielleicht traut man Frauen eine Sanierung eher zu, weil sie weniger in diese bestehenden und gegebenenfalls hemmenden Netzwerke eingebunden sind.» Wie Fidar im Mai mitgeteilt hatte, ist der Frauenanteil in den Aufsichtsräten deutscher Börsenunternehmen zuletzt auf 37 Prozent leicht gesunken.

Frauenanteil in den Vorständen während Corona-Krise gesunken

Nicht alle Fachleute stützen die Theorie der Gläsernen Klippe. Die gemeinnützige Allbright Stiftung spricht von einem entgegengesetzten Trend in der Krise: «Statistisch gesehen wird in der Krise vermehrt auf Führungskräfte gesetzt, die dem traditionellen Muster entsprechen: männlich, Mitte Fünfzig, westdeutsch, Wirtschaftswissenschaftler oder Ingenieur», sagt Geschäftsführerin Wiebke Ankersen. In der Corona-Krise 2020 sei der Frauenanteil in den Vorständen der 40 DAX-Unternehmen zum ersten Mal in der Geschichte gesunken.

Studien zeigen: Chefinnen in Krisen bleiben kürzer im Amt

Im vergangenen Jahr übernahm Bettina Orlopp die Chefposition in einem Unternehmen in der Krise. Die Commerzbank ernannte die damals 54-jährige Frau zur Konzernspitze während des Übernahmekampfes mit der Unicredit. Zuletzt lief es gut für Orlopp: Im Mai verzeichnete die Commerzbank einen Gewinnsprung von 834 Millionen Euro, das beste Quartalsergebnis seit Anfang 2011, wie der Frankfurter Dax-Konzern bekannt gab.

Die Theorie der Gläsernen Klippe existiert seit 20 Jahren. Laut Reinwald gibt es keine klaren Erkenntnisse dazu, wie die Chefinnen in Krisensituationen letztlich abgeschnitten hätten. Allerdings: Es gebe Studien, die zeigten, dass diese Frauen deutlich kürzer im Amt blieben als Männer. Und: «Wenn dann eine Frau sozusagen von der Gläsernen Klippe stürzt, dann folgte meistens wieder ein Mann nach.»

dpa