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Streit um Tarife eskaliert: Streiks in Deutschland härter als früher

Tarifkonflikte nehmen zu, Inflation und schwache Konjunktur als Gründe – Gewerkschaften kämpfen um Kaufkraftgewinne und Unternehmen halten sich zurück.

An vielen Stellen geht es gerade darum, wie der Wohlstand verteilt wird, und die Stimmung ist mitunter gereizt. Sind da auch Streiks in Deutschland mittlerweile härter als früher?
Foto: Joerg Carstensen/dpa

Immer mehr Streiks bei der Bahn, Warnstreiks im Luftverkehr – und jetzt auch noch beides gleichzeitig: Gerade Menschen unterwegs spüren, wie Tarifkonflikte gerade eskalieren. Auch im Nahverkehr gibt es Warnstreiks, und die Straße ist manchmal von protestierenden Bauern blockiert, die ebenfalls um ihre Einkommen ringen. An vielen Stellen geht es gerade darum, wie der Wohlstand verteilt wird, und die Stimmung ist mitunter gereizt. Sind da auch Streiks in Deutschland mittlerweile härter als früher?

Ja, meint Hagen Lesch, der Tarifexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. «Die Tarifauseinandersetzungen sind schon im letzten Jahr härter als in den Jahren davor geführt worden», sagte Lesch der dpa. Das arbeitgebernahe Institut misst das Ausmaß der Tarifkonflikte seit 2010 in ausgewählten Branchen mit einem Punktesystem. «Seit 2010 haben wir keinen so hohen Konfliktwert wie im letzten Jahr gehabt.» Zwar gebe es noch keine Auswertung für das erste Quartal 2024. «Aber es deutet sich an, dass wir im laufenden Jahr ein ähnlich hohes Niveau behalten werden wie wir es im letzten Jahr hatten.»

Ein Faktor ist die hohe Inflation der vergangenen Jahre. Die Preise stiegen zuweilen schneller als die Gehälter. Laut dem Statistischen Bundesamt gab es im letzten Jahr das erste geringe Reallohnplus seit 2019 – ein Anstieg von 0,1 Prozent, zu dem jedoch auch einmalig gezahlte Inflationsausgleichsprämien beitrugen. Die Gewerkschaften haben Maßnahmen ergriffen, um erneut Kaufkraftgewinne zu erzielen, so Lesch.

Forscher: Rezession mindert Bereitschaft für Zugeständnisse

Auf der anderen Seite gibt es eine schwache Konjunktur. Im letzten Jahr ist Deutschland insgesamt um 0,3 Prozent gesunken und in eine Rezession gerutscht. Volkswirte erwarten, dass die Schwäche vorerst anhalten wird.

Das mindere auf Arbeitgeberseite die Bereitschaft für Zugeständnisse, sagte IW-Experte Lesch. «Wir haben also offensiv agierende Gewerkschaften in einem Umfeld, wo die Unternehmen die Spendierhosen eher etwas enger schnallen.» Da sei es naturgemäß schwieriger, zu Kompromissen zu kommen. Hinzu komme, dass bestimmte Gewerkschaften durch aktive Tarifbewegungen Mitglieder gewinnen wollten und damit teilweise auch schon erfolgreich gewesen seien. «Insofern muss man auch befürchten, dass auch andere Gewerkschaften, die bislang friedfertiger waren, das mal ausprobieren wollen.»

Häufung von Streiks im Transportsektor

Die Sozialwissenschaftlerin Irene Dingeldey vom Institut Arbeit und Wirtschaft der Universität Bremen hebt hervor, dass die Streiks noch lange nicht ihre härteste Form angenommen haben. «Das wären unbefristete Streiks und die haben wir noch gar nicht», sagte die Sozialwissenschaftlerin der Deutschen Presse-Agentur. Aber es gebe natürlich eine gewisse Häufung von Streiks vor allem im Transportsektor. «Die fallen uns mehr auf, weil wir die Auswirkungen spüren. Und deshalb erscheinen sie uns vielleicht härter.» Wenn hingegen etwa in der Metallindustrie gestreikt werde, betreffe dies den Normalbürger nicht unmittelbar.

«Streik ist ein legitimes Instrument der Tarifauseinandersetzung», betonte Dingeldey. Es sei die einzige Widerstandsform, die Arbeitnehmer hätten, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. «Das gehört dazu – ob es uns gefällt oder nicht.»

Gewerkschaften legten derzeit eine gewisse Vehemenz an den Tag. Im Hintergrund stehe der aktuelle Arbeitskräftemangel. Für die Gewerkschaften bedeute das eine «Machtressource». «Hat sich die Ware Arbeitskraft verknappt, dann wird ein höherer Preis aufgerufen.» Bei hoher Arbeitslosigkeit hingegen verlören Gewerkschaften an Macht: «Dann fallen die Lohnforderungen geringer aus.»

Neue Tarifverträge für zwölf Millionen Beschäftigte

Es ist unklar, in welchen Branchen in diesem Jahr noch gestreikt wird. Nach Angaben des Tarifarchivs des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung laufen zwischen Dezember 2023 und Dezember 2024 für knapp zwölf Millionen Beschäftigte allein von den DGB-Gewerkschaften vereinbarte Vergütungstarifverträge aus. Die Tarifverhandlungen in der Metall- und Elektroindustrie, der größten Tarifbranche mit über 3,6 Millionen Beschäftigten, beginnen im September. Ende 2024 enden die Tarifverträge für den Öffentlichen Dienst bei Bund und Gemeinden (2,4 Millionen Beschäftigte).

IW-Experte Lesch ist der Meinung, dass die kommenden Tarifauseinandersetzungen in diesem Jahr weniger Auswirkungen haben werden als die aktuellen Konflikte in den Bereichen Luftfahrt und Bahn. «Wenn die großen Konflikte bei den Fluggesellschaften, der Luftsicherheit und bei der Bahn durch sind, werden wir das nicht mehr so stark merken wie im Moment.» Es könnten jedoch immer Überraschungen auftreten.

dpa