Die Dieselaffäre bei VW gilt als einer der größten Industrieskandale. Obwohl sich die Aufregung Jahre nach dem Auffliegen längst gelegt hat, ist die juristische Aufarbeitung alles andere als beendet.
Was wusste Winterkorn? – «Dieselgate»-Prozess vor dem Start
Die Justiz bleibt bei ihrem Plan – fast genau neun Jahre nach dem Aufdecken des Dieselskandals bei Volkswagen soll die Rolle des ehemaligen Konzernchefs Martin Winterkorn endlich ausführlich untersucht werden. Das Landgericht Braunschweig hat fast 90 Termine bis September 2025 für den Strafprozess angesetzt. Das Verfahren soll an diesem Dienstag (3. September) beginnen. Berichte über die Gesundheit des 77-Jährigen haben zuletzt Zweifel an der Planung aufkommen lassen.
Aber wenige Stunden vor dem geplanten Prozessauftakt steht der Termin weiter. Aus dem Landgericht waren bis heute Mittag keine Anzeichen für eine erneute Verschiebung aus gesundheitlichen Gründen zu vernehmen. Folgt nun also doch die schonungslose Aufklärung, die Winterkorn in seinem Entschuldigungsvideo 2015 ankündigte? «Auch ich habe zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht die Antworten auf alle Fragen», sagte er damals. Schwer vorstellbar, dass der frühere Konzernboss in den vergangenen Jahren Neues erfahren hat und dieses Wissen ab jetzt mit der Wirtschaftsstrafkammer in Braunschweig teilt.
Es gab kürzlich gesundheitliche Bedenken, weil Winterkorn im Juli dieses Jahres nach einem medizinischen Notfall erneut am Knie operiert werden musste. Der Eingriff verlief gut, aber Winterkorn war körperlich stark geschwächt, wie es damals aus seinem Umfeld hieß. Ein Aufenthalt in einer Reha-Klinik war erforderlich. Die Frage, ob der ehemalige Vorstandsvorsitzende tatsächlich bald fast jede Woche von Bayern nach Niedersachsen reist, um sich für zwei Tage auf die Anklagebank zu setzen, liegt nahe. Vor allem, weil die Gesundheit die Planungen der Justiz schon mehrmals durcheinandergebracht hat.
Winterkorn fehlt im ersten großen Betrugsprozess
Gemeinsam mit vier anderen ehemaligen VW-Managern und -Ingenieuren sollte Winterkorn eigentlich ab September 2021 vor einem Gericht in Braunschweig stehen. Die Anklage in dem Verfahren – das nach drei Jahren Verhandlung noch nicht abgeschlossen ist – lautete auf gewerbs- und bandenmäßigen Betrug mit dem Täuschungsprogramm.
Kurz vor Beginn attestierte aber ein Gutachten Winterkorn fehlende Verhandlungsfähigkeit nach mehreren Hüftoperationen. Um dennoch mit der Aufarbeitung von «Dieselgate» voranzukommen, trennte der Richter den Winterkorn-Komplex von diesem Verfahren ab und erntete dafür reichlich Kritik.
Nun also ein weiterer Versuch, das Wirken und Wissen von «Mr. Volkswagen» vor Gericht zu verhandeln. Um die Erinnerung für die breite Öffentlichkeit wiederherzustellen, trug die Wirtschaftsstrafkammer jüngst die gebündelten Vorwürfe auf einer sechsseitigen Vorschau zusammen. Es geht um gewerbsmäßigen Betrug, Marktmanipulation und eine uneidliche Falschaussage. Winterkorn soll VW-Käufer über die Beschaffenheit der Autos getäuscht und in den entscheidenden Septembertagen 2015 den Kapitalmarkt vorsätzlich nicht rechtzeitig über Risiken durch Strafzahlungen informiert haben. 2017 soll er dann vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags uneidlich falsch dazu ausgesagt haben.
Rund neun Millionen Fahrzeuge in Europa und den USA betroffen
«Dieselgate» war im September 2015 durch Nachforschungen von US-Umweltbehörden und Wissenschaftlern aufgeflogen. Nach Angaben des Gerichts waren von den Dieselmanipulationen etwa neun Millionen Fahrzeuge in Europa und den USA betroffen, den Käufern soll ein Vermögensschaden von mehreren 100 Millionen Euro entstanden sein. Die Affäre stürzte VW in die schwerste Krise der Firmengeschichte und kostetet Milliarden Euro für die juristische Aufarbeitung. Winterkorn trat zurück und sagte später, er habe zu akzeptieren, dass sein «Name verbunden ist mit der sogenannten Dieselaffäre».
Eine strafrechtliche persönliche Verantwortung wies er aber stets von sich. Anfang 2024 äußerte sich Winterkorn erstmals als Zeuge vor Gericht. «Ich halte diese Vorwürfe für unzutreffend», sagte der frühere Konzernlenker im milliardenschweren Zivilprozess von Investoren gegen VW vor dem Oberlandesgericht Braunschweig.
Winterkorn bezog sich auf die beiden Strafverfahren wegen Betrugs und Marktmanipulation von der Staatsanwaltschaft Braunschweig. Die Anklage wegen Falschaussage im Bundestag kommt von Berliner Strafverfolgern.
Gesundheitlich angeschlagener Winterkorn braucht Pausen
In seinem Statement als Zeuge sagte Winterkorn, er sei in die Entscheidungen zur Manipulations-Software nicht eingebunden gewesen. «Ich habe diese Funktion weder gefordert noch gefördert oder ihren Einsatz auch nur geduldet.» Bei der anschließenden Befragung über vier Tage wurde vor allem deutlich, dass die Operationen Spuren hinterließen. Winterkorn wirkte gesundheitlich angeschlagen und brauchte immer wieder längere Pausen. Das dürfte auch für den Strafprozess gelten, wenn dieser wie geplant startet.