Mit einem Genomischen Neugeborenen-Screening könnten Babys auf Hunderte Krankheiten getestet werden. Forscher in Heidelberg und Mannheim arbeiten an einem flächendeckenden Konzept.
Bluttropfen kann Leben retten: Babyscreening auf Krankheiten
Es sind nur ein Pieks in den Fuß eines Babys und ein paar Tropfen Blut auf einer Pappkarte – doch mit dem Neugeborenen-Screening werden seit Ende der 1960er Jahre Leben gerettet und Lebensqualität geschaffen. «Das Neugeborenen-Screening ist laut Studien die erfolgreichste Maßnahme, um die Veranlagung für Krankheiten zu erkennen und dadurch Krankheitsverläufe positiv zu beeinflussen», sagt Christian Schaaf, Direktor des Instituts für Humangenetik am Universitätsklinikum Heidelberg.
Mit diesem Verfahren werden 19 Krankheiten erfasst, insbesondere Stoffwechselerkrankungen. Allerdings könnte durch die Entschlüsselung des menschlichen Genoms mit einem genomischen Neugeborenen-Screening in Zukunft auch Hunderte von Krankheiten bei Babys getestet werden.
Die Frage lautet, wie viel Eltern wissen wollen. Soll auch nach Krankheiten gesucht werden, die erst im Erwachsenenalter ausbrechen? Oder nach solchen, die nicht behandelt werden können? Und wie können solche sensiblen Daten sicher gespeichert werden?
Forschungsprojekt New Lives erarbeitet flächendeckendes Konzept
Im Rahmen des Forschungsprojekts New Lives entwickeln Wissenschaftler am Universitätsklinikum Heidelberg sowie an den Universitäten Heidelberg und Mannheim bis zum kommenden Sommer ein umfassendes Konzept – und planen, ab 2026 in Heidelberg als Teil einer Studie mit einem neuen Screening-Angebot zu beginnen. Die Finanzierung dafür ist bereits beantragt. Laut Schaaf könnten dann allen Eltern von durchschnittlich rund 3.000 Neugeborenen an der Uniklinik pro Jahr ein genomisches Neugeborenen-Screening angeboten werden. Für das Screening wären ebenfalls nur wenige Tropfen Blut erforderlich. Die Ergebnisse sollten innerhalb von weniger als vier Wochen vorliegen.
Manuela Stecher wurde kurz nach der Einführung des Neugeborenen-Screenings am 8. Mai 1969 in Pfullendorf, einer Kleinstadt nördlich des Bodensees, geboren. «Ich verdanke dem Neugeborenen-Screening alles», sagt die Diplom-Betriebswirtin, die kurz nach der Geburt positiv auf Phenylketonurie, einer schweren Stoffwechselerkrankung, getestet wurde. Dank des Screenings kann die Mutter zweier Kinder ein normales Leben führen, wie sie selbst sagt. «Ich würde jetzt nicht hier so dastehen. Ich wäre schwerst geistig behindert und hätte nicht dieses Leben.»
Unmittelbar nach der Diagnose begann sie eine äußerst strenge Diät, die sie lebenslang einhalten muss. Sie kann nur minimale Mengen an Eiweiß essen und benötigt spezielle Nahrungsmittel, wie sie berichtet.
Bei einem von etwa 900 Kindern wird eine der seltenen Erkrankungen entdeckt
Laut dem Nationalen Screeningreport wird derzeit bei einem von etwa 900 Kindern, die am Neugeborenen-Screening teilnehmen, eine der getesteten 19 seltenen Krankheiten entdeckt – das entspricht etwa 0,1 Prozent. In einer amerikanischen Studie wurden bei drei Prozent der getesteten Babys mit dem Genomischen Neugeborenen-Screening ernsthafte gesundheitliche Probleme festgestellt.
Die Forscher in Heidelberg plädieren in ihrem Konzept jedoch zunächst für eine strengere Auswahl der zu testenden genetischen Erkrankungen, wie Schaaf erklärt: Es sollte nur auf Krankheiten getestet werden, die sicher im Kindesalter ausbrechen und behandelbar sind. Der Wissenschaftler schätzt, dass zunächst etwa 200 Krankheiten getestet werden könnten – und vermutlich weniger als ein Prozent der getesteten Babys auffällig wären.
Beim Genomischen Neugeborenen-Screening würde laut Schaaf das gesamte menschliche Genom ausgelesen. Anschließend werde mit Filtern gezielt auf genetische Veränderungen geschaut, die für die ausgewählten Krankheiten verantwortlich seien. «Theoretisch sind diese genetischen Daten natürlich wie ein Fingerabdruck», sagt der Wissenschaftler.
Fundierte Beratung der Eltern entscheidend für Akzeptanz des Screenings
Die Heidelberger Uniklinik sei in der Lage, die Daten sicher zu speichern, sagt Eva Winkler, Verbundsprecherin von New Lives. Als Teil ihres Konzepts würden auch nur die genetischen Veränderungen gespeichert – nicht das ganze Genom. «Die Rohdaten würden wir löschen», sagt die Professorin für Translationale Medizinethik, die auch Mitglied im Deutschen Ethikrat ist. Entscheidend für die Akzeptanz eines solchen Screenings sei auch eine fundierte Beratung der Eltern, am besten noch während der Schwangerschaft, etwa durch die Gynäkologen.
Die Wissenschaftlerin würde es wichtig finden, dass das Genomische Neugeborenen-Screening flächendeckend angeboten wird und für alle bezahlbar bleibt, beispielsweise durch eine Kostenübernahme durch die Krankenkassen. Derzeit erhalten Kliniken für ein herkömmliches Neugeborenen-Screening nur etwa 45 Euro erstattet, wie Schaaf erklärt. Die reinen Sachkosten für die Sequenzierung eines Genoms belaufen sich derzeit noch auf etwa 1.200 Euro. Allerdings sind die Preise seit Jahren rückläufig.
Laut Ralf Müller-Terpitz von der Universität Mannheim ist ein genomisches Neugeborenen-Screening bereits heute rechtlich möglich – zumindest unter Berücksichtigung bestimmter Vorschriften. Der Rechtswissenschaftler erklärt: “Das Gendiagnostikgesetz schreibt vor, dass die Eltern nur von Ärzten über ein solches Screening aufgeklärt werden dürfen.”
Mutter fordert Aufnahme der Krankheit der Tochter in das Screening
Verena Romero aus Hofheim am Taunus bei Frankfurt kämpft seit Jahren dafür, dass die seltene genetische Erkrankung dup15q in das Neugeborenen-Screening aufgenommen wird – auch wenn die Erkrankung nicht behandelt werden kann. Bei ihrer Tochter Chiara wurde die Diagnose im Alter von 15 Monaten gestellt, wie Romero berichtet. Die Familie hatte zuvor eine monatelange Odyssee von Arzt zu Arzt hinter sich gebracht – und die Tochter hatte Tausende von Anfällen, bei denen zunächst der Verdacht auf Epilepsie bestand. Das Kleinkind verlor alles, was es gelernt hatte. “Es fiel zurück auf den Stand eines ein- oder zwei Monate alten Babys”, sagt Romero. Nach der Diagnose erhielt Chiara ein anderes Medikament, das vorübergehend die Anfälle stoppte.
Romero möchte anderen betroffenen Familien eine möglicherweise jahrelange Ungewissheit bis zur Diagnose ersparen. Die Symptome ließen sich auch mit der Diagnose besser behandeln, sagt sie. Und: Eine Aufnahme in das Neugeborenen-Screening schaffe die Möglichkeit, sich frühzeitig mit anderen Betroffenen auszutauschen und sich gegenseitig zu unterstützen. «Es ist für uns extrem wichtig, dass man dieses Auffangnetz hat, weil das Versorgungssystem das einfach nicht abdecken kann.»