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Zunahme der ADHS-Erstdiagnosen bei Erwachsenen in Deutschland

Studie zeigt 199% Anstieg seit 2015 – besonders bei Frauen und unter 40-Jährigen. Mögliche Ursachen: höhere Sensibilisierung, neuer Diagnosecode, Corona-Pandemie.

Immer mehr Erwachsene bekommen eine ADHS-Diagnose. (Archivbild)
Foto: Sven Hoppe/dpa

In Deutschland erhalten heute deutlich mehr Erwachsene eine Erstdiagnose für Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) als noch vor zehn Jahren. Die Inzidenz, also die Zahl der Erstdiagnosen pro 10.000 gesetzlich Krankenversicherte, ist von 2015 bis 2024 um 199 Prozent gestiegen – von etwa 8,6 auf 25,7 pro 10.000, wie eine Studie des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung zeigt, die im «Deutschen Ärzteblatt International» veröffentlicht wurde.

Die Anzahl der Erstdiagnosen ist seit 2021 besonders stark gestiegen, insbesondere bei Frauen. Im Jahr 2021 lag sie bei 12,7 pro 10.000, im Jahr 2024 bereits bei 25,7, unabhängig vom Geschlecht.

Der Anstieg ist kein ausschließlich deutsches Phänomen. In der kanadischen Provinz Ontario ist die Anzahl der jährlichen Verschreibungen von ADHS-Medikamenten zwischen 2015 und 2023 um 157 Prozent gestiegen, wie eine Studie zeigt.

Was als Erstdiagnose gilt

Die Analyse im Ärzteblatt basiert auf Abrechnungsdaten von gesetzlich Krankenversicherten ab 18 Jahren. Es wurden Daten von 17 Kassenärztlichen Vereinigungen verwendet. Die Daten für 2024 seien vorläufig, da noch nicht alle Erstdiagnosen validiert seien, hieß es.

Als neu diagnostizierter Fall in einem Untersuchungsjahr gelten Versicherte, die in den zwei Jahren zuvor keine Diagnose erhalten haben. Außerdem muss die Diagnose als gesichert gekennzeichnet und dokumentiert sein. Es ist also möglich, dass die untersuchten Patienten nach einer längeren Pause erneut, jedoch nicht zum ersten Mal mit ADHS diagnostiziert wurden.

Mädchen mit ADHS fallen oft später auf

Unter 40-Jährige wiesen im gesamten Zeitraum die höchste Rate an Neudiagnosen auf. Bei Männern war die Inzidenz höher als bei Frauen, unabhängig vom Alter. Im Laufe der Jahre verringerte sich der Unterschied zwischen Männern und Frauen jedoch kontinuierlich, bis sie 2024 fast gleichauf waren. Laut der Studie wird vermutet, dass der Beginn der Symptome bei vielen Fällen deutlich früher lag und es sich größtenteils um verspätete Erstdiagnosen handelt. Das bedeutet, dass die Betroffenen bereits in ihrer Kindheit ADHS hatten, aber keine Diagnose erhielten.

Laut Swantje Matthies vom Universitätsklinikum Freiburg, die nicht an der Analyse beteiligt war, ist bekannt, dass weibliche Betroffene im Kindesalter weniger auffielen. Daher werden sie seltener diagnostiziert. Es ist daher besonders plausibel, dass Mädchen und Frauen erst im Erwachsenenalter eine Erstdiagnose erhalten.

Aufmerksamkeit für die Krankheit ist gewachsen

Warum wird seit 2021 so viel mehr ADHS bei Menschen diagnostiziert als zuvor? Die Autoren der Studie haben dafür mehrere Erklärungen. Zum einen könnte es sein, dass in der Gesellschaft eine höhere Sensibilisierung für die Krankheit herrscht. Zum anderen wurde 2019 ein neuer Diagnosecode eingeführt. Fälle, die möglicherweise schon früher existierten, könnten nun sichtbarer sein, da sie besser erfasst werden. Ein weiterer Faktor könnten die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Psyche sein.

Die Autoren betrachten den Anstieg der Neudiagnosen von ADHS als positiv, da dies dazu führt, dass mehr Betroffene eine Therapie beginnen, was auf den erheblichen Leidensdruck und die Auswirkungen auf die Lebensqualität zurückzuführen ist.

Großes Thema in den sozialen Medien

In den Medien bekomme die Krankheit viel Aufmerksamkeit, sagte Matthies. «Dabei besteht auch die Gefahr, dass das Konzept „verwässert“ wird. Es ist möglich, dass Menschen sich mit ADHS-typischen Eigenschaften, Merkmalen und Erfahrungsberichten identifizieren, obgleich sie nicht die diagnostischen Kriterien erfüllen.» Eine Diagnose erfordere eine ausführliche Anamnese und Beurteilung durch Fachleute. 

Soziale Meiden hätten zwei Seiten, sagte Alexandra Philipsen vom Universitätsklinikum Bonn. «Einerseits können Inhalte die Sensibilität für ADHS steigern. Andererseits könnten sie die Schwelle senken, sich anhand einer fälschlichen Selbstdiagnose in einer Diagnostik vorzustellen. Es wäre schön, die Aufklärung in sozialen Medien gemeinsam mit Fachleuten zu machen und zusammen Formate zu schaffen.»

Konzentrationsstörungen, Impulsivität, Unruhe

Typische Symptome von ADHS sind deutliche Probleme mit der Aufmerksamkeit und Konzentration, ausgeprägte Impulsivität und starke körperliche Unruhe (Hyperaktivität). Diese Symptome können in ihrer Intensität variieren und treten nicht unbedingt alle gleichzeitig auf. Laut dem Gesundheitsministerium müssen die Auffälligkeiten mindestens sechs Monate lang in verschiedenen Lebensbereichen bestehen und die Betroffenen beeinträchtigen, damit von ADHS die Rede sein kann.

Andreas Reif vom Universitätsklinikum Frankfurt ist der Meinung, dass nicht jeder Mensch mit ADHS-Diagnose eine Therapie benötigt. Wenn eine Behandlung erforderlich ist, hält er im Erwachsenenalter eine medikamentöse Therapie für die erste Wahl.

Warum der Anstieg der Diagnoserate sich verlangsamen könnte 

Wie stark die Rate der Neudiagnose weiter steigt, hängt Reif zufolge davon ab, inwieweit die Patienten bereits im Kindes- und Jugendalter korrekt identifiziert werden. In den USA etwa näherten sich der Anteil der Menschen mit ADHS und der Anteil der Menschen mit ADHS-Diagnose immer weiter an. «Das ist auch das Ende einer Steigerung der Diagnoseraten – eine solche Annäherung würde ich auch für Deutschland erwarten.» 

Experten schätzen, dass ungefähr 2,5 Prozent der Erwachsenen in Deutschland an ADHS leiden.

dpa