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Experten: Adipositas muss anders definiert werden

Ab wann ist man fettleibig? An der Definition dafür gibt es Kritik – auch weil manche Menschen zwar stark übergewichtig, aber weitgehend gesund sind. Eine Expertenrunde schlägt Anpassungen vor.

Mehr als eine Milliarde Menschen auf der Welt haben Schätzungen zufolge Adipositas. (Archivbild)
Foto: Waltraud Grubitzsch/dpa

Derzeitige Diagnosen von Fettleibigkeit stützen sich auf den sogenannten Body-Mass-Index (BMI) – der ist aber Experten zufolge kein zuverlässiges Maß vor allem für die Gesundheit eines Menschen. Eine Medizinergruppe schlägt vor, die Diagnoserichtlinien für Adipositas grundlegend zu überarbeiten. Neben dem BMI sollten Daten zum Körperfett – etwa zum Taillenumfang oder als direkte Fettmessung – herangezogen werden, empfiehlt die Gruppe im Fachjournal «The Lancet Diabetes & Endocrinology».

Der BMI wird berechnet, indem das Körpergewicht in Kilogramm durch die Körpergröße in Metern zum Quadrat geteilt wird. Ein BMI über 30 gilt derzeit als Hinweis auf Fettleibigkeit bei Menschen europäischer Abstammung. Es wird schon lange kritisiert, dass dieser Wert kein direktes Maß für Fett ist, dessen Verteilung im Körper nicht widerspiegelt und keine Informationen über Gesundheit und Krankheit auf individueller Ebene liefert.

Die Bedeutung ist enorm: Gemäß der Studie gibt es schätzungsweise weltweit über eine Milliarde Menschen mit Adipositas.

An bestimmten Stellen gefährlicher

«Sich bei der Diagnose von Fettleibigkeit allein auf den BMI zu verlassen, ist problematisch, da manche Menschen dazu neigen, überschüssiges Fett an der Taille oder in und um ihre Organe wie die Leber, das Herz oder die Muskeln zu speichern», erklärte Mitautor Robert Eckel von der University of Colorado in Aurora. 

Dies bedeutet ein höheres Gesundheitsrisiko als überschüssiges Fett direkt unter der Haut in Armen, Beinen oder anderen Körperbereichen. Außerdem haben Menschen mit überschüssigem Körperfett nicht immer einen BMI, der auf Fettleibigkeit hinweist, sodass ihre Gesundheitsprobleme unbemerkt bleiben könnten.

Die Expertengruppe schlägt vor, anstelle des alleinigen Einsatzes des BMI einen der drei folgenden Diagnosewege zu verwenden:

– mindestens eine Messung von Taillenumfang, Verhältnis Taille-Hüfte oder Verhältnis Taille-Größe zusätzlich zum BMI,

– Es müssen mindestens zwei Messungen des Taillenumfangs, des Verhältnisses von Taille zu Hüfte oder des Verhältnisses von Taille zu Größe durchgeführt werden, unabhängig vom BMI.

– oder die direkte Messung des Körperfetts zum Beispiel durch eine Knochendichtemessung unabhängig vom BMI.

Es könne jedoch bei Personen mit einem BMI über 40 ohne weitere Bestätigung von übermäßigem Körperfett ausgegangen werden.

Adipositas als Krankheit

Neben den neuen Diagnoserichtlinien schlagen die Experten um Francesco Rubino vom King’s College London zwei neue Diagnosekategorien für Adipositas vor: «klinische Adipositas» für die chronische, mit einer anhaltenden Funktionsstörung von Organen einhergehende Krankheit und «präklinische Adipositas» für die vorangehende Phase mit Gesundheitsrisiken, aber noch keiner anhaltenden Krankheit. Hintergrund sei unter anderem, dass in beiden Phasen unterschiedliche therapeutische Strategien erforderlich seien.

Der Vorschlag der «Commission on Clinical Obesity» mit Medizinern verschiedener Fachgebiete wird von 76 Fachgesellschaften und Patientenvertretungen weltweit unterstützt, wie es in dem Beitrag heißt.

Rubino, Vorsitzender der Kommission, sagte: «Die Frage, ob Adipositas eine Krankheit ist, führt in die Irre, weil sie von einem unplausiblen Alles-oder-Nichts-Szenario ausgeht, bei dem Adipositas entweder immer eine Krankheit ist oder nie eine Krankheit.» Die Realität sei differenzierter. Bei einigen fettleibigen Menschen bleibe die normale Funktion der Organe und die allgemeine Gesundheit langfristig erhalten, während andere direkt schwere Krankheiten entwickelten.

Versorgung optimieren

«Wenn Adipositas nur als Risikofaktor und niemals als Krankheit betrachtet wird, kann dies dazu führen, dass Menschen, die allein aufgrund ihrer Adipositas erkrankt sind, der Zugang zu einer zeitnahen Versorgung verwehrt wird», führte Rubino aus. «Andererseits kann eine pauschale Definition von Adipositas als Krankheit zu einer Überdiagnose und einem ungerechtfertigten Einsatz von Medikamenten und chirurgischen Eingriffen führen, die dem Einzelnen schaden und der Gesellschaft enorme Kosten verursachen können.»

Menschen mit «klinischer Adipositas» benötigten schnellen Zugang zu Therapien, solche mit «präklinischer Adipositas» individuelle Strategien für ein vermindertes Risiko für Erkrankungen. Die neue Unterteilung könne eine rationale Zuweisung von Gesundheitsressourcen und eine faire, medizinisch sinnvolle Priorisierung der verfügbaren Behandlungsoptionen erleichtern. 

Fettleibigkeit spielt zunehmend eine Rolle bei Kindern und Jugendlichen. Im Jahr 1975 waren nur etwa 4 Prozent der 5- bis 19-Jährigen weltweit übergewichtig oder fettleibig, während es im Jahr 2016 bereits mehr als 18 Prozent waren. Etwa die Hälfte der fettleibigen Kinder leidet ihr ganzes Leben lang an Adipositas.

Lebenslange Folgen

Besorgniserregend sei dies unter anderem deshalb, weil Adipositas bei Kindern und Jugendlichen das spätere Risiko für Krankheiten wie Typ-2-Diabetes, koronare Herzkrankheit, Bluthochdruck, Schlaganfall, bestimmte Arten von Krebs sowie Lungen- und Nierenerkrankungen erhöhe. Je höher der BMI in der Kindheit, desto höher sei das Risiko für solche potenziell lebensverkürzenden Probleme im Erwachsenenalter.

Es wird betont, dass die frühe Diagnose und Behandlung von Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen oberste Priorität für die Gesundheitssysteme haben sollte, um die Belastung für den Einzelnen, die Gesellschaft und die Volkswirtschaft zu verringern.

Zweifel am Mehrwert für Betroffene

Gerade hier sieht Thomas Reinehr von der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln – Universität Witten/Herdecke wenig Mehrwert durch die Vorschläge, zumal Hinweise auf psychische Probleme fehlten. Ein Mensch könne gerade als Kind oder Jugendlicher, auch wenn er körperlich gesund sei, sehr unter Hänseleien leiden. «Nach der vorgeschlagenen Definition würde man aber keine Therapie bei ihm durchführen können, da er nicht “krank” ist.»

Es ist problematisch, dass Kostenträger Behandlungsmaßnahmen bei Übergewicht nur noch übernehmen, wenn eine Folgeerkrankung vorliegt, wie in der vorgeschlagenen Definition. Es wäre effektiver, Übergewicht zu behandeln, bevor Folgeerkrankungen auftreten, die irreversibel sein könnten, wie die koronare Herzkrankheit. Übergewichtige Kinder und Jugendliche reagieren viel besser auf Lebensstiländerungen als extrem adipöse Kinder und Jugendliche.

Reinehr befürchtet, dass eine Orientierung an den Empfehlungen der Kommission dazu führen wird, dass weniger Menschen mit Übergewicht als zuvor eine Therapie von den Krankenkassen erstattet bekommen. Die Anzahl der adipösen Menschen in den Statistiken würde abnehmen – was den Anschein erwecken könnte, dass sich das Problem des Übergewichts in unserer Gesellschaft verringert hat.

dpa