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Angriffe auf Segelboote: Orcas sorgen für Angst und Schrecken im Mittelmeer

Spanische Familie erlebt Horrortrip – Orcas zerstören Segelschiff. Attacken vor Küste von Tarifa – Behörden ratlos.

Orcas sind hochintelligente Tiere
Foto: SECAC/Monica Perez/epa efe/dpa

Die idyllische Bootsfahrt im Mittelmeer geriet für eine spanische Familie binnen Sekunden zum Horrortrip. Mehrere Orcas bedrängten plötzlich das Segelschiff und rissen ein großes Stück des über zwei Meter langen Ruderblattes ab. «Ich weiß nicht, ob diese Wale wirklich nur spielen wollten oder was auch immer, aber wenn man von einem acht Meter langen und mehrere Tonnen schweren Biest angegriffen wird, das seine Zähne in Aluminium versenken kann, bekommst du es mit der Angst zu tun», erzählte der Bootsbesitzer jüngst der spanischen Zeitung «El Mundo». Der geplante Schiffsurlaub der Familie endete abrupt – aber die Attacken hören nicht auf.

Der letzte größere Zwischenfall ereignete sich erst am 24. Juli vor der Küste von Tarifa an der Straße von Gibraltar. Das Segelboot «Bonhomme William» sendete sofort ein Notsignal, doch als die spanischen Einsatzkräfte eintrafen, war es schon halb untergegangen. Die drei Insassen – zwei Briten und ein Italiener – wurden rechtzeitig geborgen. «Die drei Geretteten sind wohlauf an Land gebracht, das Segelboot versinkt», meldete der spanische Seerettungsdienst auf dem Kurznachrichtendienst X.

https://x.com/salvamentogob/status/1816383635047452856

Solche Angriffe – Forscher sprechen lieber von Interaktionen und gehen davon aus, dass die Schwertwale nicht in aggressiver Absicht handeln – waren bis vor wenigen Jahren unbekannt. Erste Zwischenfälle wurden im Pandemiejahr 2020 gemeldet und oft auf Video festgehalten. Da hört man die Schreie überraschter Seeleute: «Boah, was für ein Riesenvieh!», «Du Drecksack!» und «Er hat uns erwischt!».

Die bis zu zehn Meter langen und über fünf Tonnen schweren Orcas sind die größte Art aus der Delfinfamilie und der breiten Öffentlichkeit spätestens seit der Filmreihe «Free Willy» bekannt. Sie fressen Thunfische, Heringe, Robben, Pinguine und Seevögel und attackieren auch Haie, Delfine und andere Wale. Auf Boote hatten sie es aber bis 2020 nicht abgesehen.

Auch dieses Jahr wurden mehrere Boote völlig zerstört 

Verschiedene Maßnahmen der spanischen Behörden, wie Fahrverbote für kleinere Boote in bestimmten Meereszonen und GPS-Tracker, um Orcas zu orten und Kapitäne zu warnen, brachten bisher wenig Erfolg. Laut der Organisation «GT Atlantic Orca» (GTAO) gab es dieses Jahr bis Ende Juni vor den Küsten von Spanien und Portugal 84 Interaktionen. Sechs Boote seien so stark beschädigt worden, dass sie abgeschleppt werden mussten. Die Zahlen sind etwas höher als der Durchschnitt der Jahre 2021 bis 2023 im selben Zeitraum.

«Die meisten Begegnungen werden weiterhin an der Straße von Gibraltar oder in der Nähe registriert», erzählt GTAO-Biologe Alfredo López der Deutschen Presse-Agentur. Das Gebiet zwischen Mittelmeer und Atlantik ist bei iberischen Orcas beliebt, weil dort eine ihrer Lieblingsspeisen, Thunfisch, reichlich vorkommt.

Das Phänomen erinnert an Frank Schätzings Bestseller «Der Schwarm», in dem die Natur gegen die Menschheit rebelliert. Spanische Medien berichten von zunehmender Angst – insbesondere bei Besitzern von Luxusbooten, die sich nicht mehr aufs offene Meer wagen und ihre teuren Fahrzeuge oft nur noch im Jachthafen genießen. Immer mehr Segler und auch Fischer der Region fordern von den Behörden «Lösungen» und auch Entschädigungen wegen entgangener Einnahmen.

Warum nur an den Küsten vor Südwesteuropa?

Die Vorfälle stellen Forscher vor ein Rätsel. Denn obwohl Orcas weltweit vorkommen, zeigen bisher nur Tiere in der iberischen Region dieses mysteriöse Verhalten. Von den 34 dort registrierten Individuen interagieren laut GTOA nur 16 mit den Booten. Es handelt sich dabei fast immer um eine gemeinsame Aktivität in der Gruppe. Es handelt sich um drei Weibchen und 13 Jungtiere, berichtet López.

Warum ausgerechnet diese 16? Warum nur in der Straße von Gibraltar und teilweise auch im westlichen Mittelmeer, vor der Küste Portugals und weiter nördlich im Atlantik vor der Nordküste Spaniens und der Westküste Frankreichs? Forscher gestehen ein, dass sie noch keine definitiven Antworten auf diese Fragen haben.

López hat zwei Thesen: Entweder haben die hochintelligenten Tiere einfach etwas Neues erfunden – ähnlich wie jene Orcas, die in den 1980er Jahren im Nordpazifik tote Lachse auf ihren Köpfen balancierten. «In der Gruppe ahmen sie dann einander nach». Oder sie reagieren auf ein negatives Erlebnis, wie das Verfangen in einem Fischnetz oder eine Kollision mit einem Boot.

Haben Killerwale dank Fischereiverboten einfach zu viel «Freizeit»?

Auch Langeweile könnte möglicherweise eine Rolle spielen. In einer Studie vom Juni vermutet die Internationale Walfangkommission (IWC), dass Orcas Boote angreifen, weil es durch Fischereiverbote reichlich Thunfisch gibt. Da sie weniger Zeit mit Futtersuche verbrächten, hätten sie wohl mehr «Freizeit» und «spielten» mit den Schiffen, hieß es.

Wie sehr dieses Phänomen Segler, Behörden, Medien und Forschende beschäftigt, zeigen die vielen Studien und Aktionen – auch von Umweltschützern. Die spanische Organisation «Ecologistas en Acción» startete im Juli mit einem Segelschiff und bis zu 60 sich abwechselnden Aktivisten und Forschenden eine monatelange Beobachtungsreise, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.

Bei ihnen steht jedoch nicht die Sorge um Segler im Vordergrund, sondern das Wohl der Orcas. Diese sind auf der Roten Liste der gefährdeten Arten der Weltnaturschutzunion (IUCN) aufgeführt und werden insbesondere in der Straße von Gibraltar durch Klimawandel, Wasserverschmutzung, zunehmenden Schiffsverkehr und Lärm bedroht, so die Organisation.

Den Orcas schlägt immer mehr Hass entgegen – auf den Booten und im Netz

Einig sind sich alle Fachleute darin, man dürfe die Tiere nicht dämonisieren. Schlagzeilen wie «Aufstand der Orcas» verzerrten die Realität, klagt López. Er hat den Eindruck, dass den Tieren von Schiffsbesatzungen, aber auch im Internet zunehmend Hass entgegengebracht wird. Videos zeigten, wie Bootsbesatzungen unter anderem mit Seenotraketen auf Orcas schießen.

Um eine Eskalation zu vermeiden, weist der Spanier auf die Informationen auf der Website seiner Organisation hin. Kapitäne sollten sich besser informieren, alternative Routen wählen, nicht nachts fahren und sich nicht zu weit von der Küste entfernen.

Derweil existiert die Hoffnung, dass das Problem von selbst verschwinden könnte: Manche Fachleute vermuten nämlich eine vorübergehende Modeerscheinung, die jäh enden könnte – so wie das Lachs-Balancieren in den 1980er Jahren. López sieht Indizien dafür: «Im Vergleich zu 2023 geht die Zahl der Interaktionen dieses Jahr zurück.»

dpa