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Polio in Deutschland – womöglich bereits Ansteckungsketten?

In deutschem Abwasser werden nach wie vor Polioviren nachgewiesen. Heißt das, dass es hierzulande bereits Übertragungen der potenziell tödlichen Krankheit gibt?

Die Stiko empfiehlt drei Impfungen zur Grundimmunisierung von Säuglingen sowie eine Auffrischungsimpfung (Archivbild).
Foto: Daniel Karmann/dpa

Nach weiteren Nachweisen von Polioviren im Abwasser hält es das Robert Koch-Institut (RKI) für «zunehmend wahrscheinlicher», dass das Virus bereits zwischen Menschen in Deutschland übertragen wird. Ein genauer Wert für die Zahl infizierter Menschen lasse sich nicht angeben, teilte das Institut mit. Nachgewiesen wurde eine Übertragung demnach hierzulande bisher nicht, auch Erkrankungen wurden bisher nicht gemeldet. Ärzte und medizinische Labore sind aufgerufen, Verdachtsfälle zu melden und die Diagnostik auf solche Enteroviren umfassender zu nutzen, damit Infizierte entdeckt werden können. 

Nicht oder nicht vollständig geimpfte Menschen können nach RKI-Angaben in seltenen Fällen an Kinderlähmung erkranken. «Jeder in Deutschland sollte eine Polio-Impfung haben», betonte RKI-Präsident Lars Schaade. RKI-Angaben zufolge sind nur etwa 21 Prozent der Einjährigen in Deutschland vollständig gegen Polio geimpft – obwohl die Grundimmunisierung bis zum Alter von zwölf Monaten abgeschlossen sein sollte. Nur 77 Prozent der Kinder haben demnach im Alter von zwei Jahren den vollständigen Impfschutz.

Krankheit kann zu dauerhaften Lähmungen führen

Poliomyelitis ist eine hochansteckende Krankheit, die bei nicht ausreichend immunisierten Menschen zu dauerhaften Lähmungen führen kann. Eine Therapie gibt es bisher nicht. Ein Ungeimpfter entwickelt in etwa einem Viertel der Fälle eine grippeähnliche Erkrankung. Bei ein bis fünf von hundert Infizierten entwickelt sich eine Meningitis, noch viel seltener wird das Rückenmark infiziert und es kommt zu Lähmungen, die in Einzelfällen auch die Atemmuskulatur betreffen und tödlich enden.

Polio wird auch als Kinderlähmung bezeichnet, da der Erreger früher so weit verbreitet war, dass die meisten Menschen bereits im Kindesalter damit in Kontakt kamen. Bevor Schutzimpfungen eingeführt wurden, gab es allein in Deutschland Tausende Erkrankte und Hunderte Todesfälle pro Jahr.

Nachweise schon seit gut einem halben Jahr

Ende November des letzten Jahres hat das RKI erstmals berichtet, dass in Proben aus dem Abwasser deutscher Städte Polioviren (cVDPV2) entdeckt wurden. Später wurde bekannt gegeben, dass es Funde in allen sieben regelmäßig untersuchten Städten – München, Bonn, Köln, Hamburg, Dresden, Düsseldorf und Mainz – gegeben hat. In den letzten Wochen wurden an vier von mittlerweile zehn Teststellen – Dresden, Mainz, München und Stuttgart – weiterhin Polioviren nachgewiesen, wie das RKI im aktuellen Epidemiologischen Bulletin berichtet.

Die Funde zeigen, dass Menschen im Einzugsgebiet der betroffenen Klärwerke mit dem Poliovirus infiziert sind und den Erreger mit dem Stuhl ausscheiden. Unklar ist bisher aber, ob sich das Virus hierzulande von Mensch zu Mensch ausbreitet, also ob sich immer neue Betroffene anstecken. Noch lasse sich nicht gesichert sagen, ob es Übertragungen vor Ort gibt, erklärte Schaade. Alternativ könnten die Nachweise immer wieder auf Menschen zurückgehen, die den Erreger aus anderen Ländern mitbringen und noch eine gewisse Zeit ausscheiden. «Beides ist möglich.» 

Laut dem RKI ist es aufgrund der langen Dauer des Geschehens und der Nachweise des Erregers an verschiedenen Standorten wahrscheinlicher, dass zumindest lokal begrenzt eine Übertragung zwischen Menschen stattfindet.

Erreger geht ursprünglich auf Schluckimpfstoffe zurück

Laut RKI gehören die zuletzt nachgewiesenen Viren zum selben Cluster wie die Ende 2024/Anfang 2025 in Deutschland und anderen europäischen Ländern wie Spanien und Polen gefundenen. Diese stammen ursprünglich von Schluckimpfstoffen gegen Poliomyelitis (Kinderlähmung) mit abgeschwächten, aber lebenden Polio-Erregern. Obwohl solche Präparate in Deutschland seit 1998 nicht mehr verwendet werden, sind sie vor allem in Afrika und Asien aufgrund wichtiger Vorteile noch weit verbreitet.

Dank intensiver Impfkampagnen wird Polio seit langem als fast vollständig ausgerottet betrachtet, mit nur noch vereinzelten Infektionen durch den Wildtyp in Afghanistan und Pakistan.

Seit 1998 wird in Deutschland ausschließlich inaktivierter Polioimpfstoff (IPV) verwendet. Diese IPV-Impfstoffe sind sehr effektiv bei der Verhinderung von Krankheiten, verhindern jedoch nicht eine Infektion und die Weitergabe des Erregers. Dadurch kann sich das Virus unbemerkt ausbreiten. Besonders in Ländern mit niedriger Impfquote kann dies gefährlich werden, daher setzen solche Staaten weiterhin auf die Schluckimpfung.

Ansteckungen über die Atemwege 

Die Verbreitung von Polioviren erfolgt hauptsächlich fäkal-oral über Kontaktinfektionen, erklärte Schaade. In Ländern mit hohem Hygienestandard wie Deutschland spielen wahrscheinlich Ansteckungen über die Atemwege eine größere Rolle: Die Viren breiten sich zunächst im Rachen aus und können durch Tröpfcheninfektion übertragen werden.

Die Ständige Impfkommission (Stiko) rät dazu, drei Impfungen mit einem inaktivierten Polio-Impfstoff zur Grundimmunisierung von Säuglingen durchzuführen und eine Auffrischungsimpfung im Alter von 9 bis 16 Jahren zu erhalten.

Auch das ist eine Pandemie-Folge

Infektionen mit vakzineabgeleiteten Polioviren sind seit Jahren ein Problem. Ein solcher Polio-Ausbruch ereignete sich beispielsweise 2022 in New York, wobei ein junger Mann irreversible Lähmungen erlitt.

«Die abgeschwächten Viren in der Schluckimpfung können lange Zeit unentdeckt zirkulieren, sich dabei verändern und schließlich wieder akute schlaffe Lähmungen verursachen», heißt es beim RKI. Durch die sehr niedrige Zahl mit Symptomen assoziierter Fälle werde bei einer nachgewiesenen Erkrankung jeweils mit etwa 200 weiteren, nicht erkannten Infektionen gerechnet.

Routine-Impfungen wie die gegen Polio wurden in den Pandemie-Jahren in vielen Ländern unterbrochen. Afrikanische Länder sind Experten zufolge aufgrund niedriger Impfquoten besonders von cVDPV-Infektionen betroffen.

dpa