Europäische Wissenschaftler suchen im Nordatlantik nach Atommüll-Fässern. Ziel: Ökosystem-Folgen untersuchen und Radioaktivität messen.
Suche nach Atommüll im Ozean: Forscher auf Spurensuche

Es erscheint heute absurd, Atommüll in den Ozean zu werfen. Dennoch geschah genau das zwischen den 1950er und 1980er Jahren in großem Umfang. Es wird vermutet, dass allein im Nordostatlantik mindestens 200.000 Fässer liegen. Ein Team europäischer Forscher sucht nun nach den Fässern und begibt sich in das Gebiet, in dem vermutlich die Hälfte der Abfälle abgeladen wurde. Ein Wissenschaftler des Thünen-Instituts für Fischereiökologie in Bremerhaven ist ebenfalls an Bord.
Ozeane schienen vor Jahrzehnten sicherer Entsorgungsort
Mit dem Beginn der Atomkraft in Europa entstand auch für viele Länder die Frage nach der Entsorgung von radioaktivem Müll. Die Tiefen des Ozeans schienen als günstige und einfache Lösung, um das in Laboren anfallende Industrieabfall zu entsorgen – zumindest dort, wo der Ozean als geologisch stabil galt und fernab der Küste und menschlicher Aktivität lag. Damals wusste man nur wenig über das Leben in den Weltmeeren. Erst im Jahr 1993 wurde schließlich die Entsorgung von Atommüll im Ozean verboten.
Patrick Chardon, Leiter des Projekts NODSSUM (Nuclear Ocean Dump Site Survey Monitoring), ist der Ansicht, dass die Radioaktivität bei den meisten nuklearen Abfällen, die im Nordatlantik landeten, nach etwa 300 bis 400 Jahren praktisch verschwunden sein sollte. Nur bei ungefähr zwei Prozent des Mülls dauert die Strahlung länger, erklärte der Atomphysiker, der am Labor Clermont Auvergne in Clermont-Ferrand tätig ist.
Chardon erklärte, dass die Fässer damals so gebaut wurden, dass sie dem Druck in der Tiefe standhalten können, aber nicht, um die Radioaktivität vollständig einzuschließen. Er glaubt, dass seit geraumer Zeit Radioaktivität aus den Behältern entweichen könnte.
Tauchroboter wird Meer nach Fässern durchforsten
Bei dem Projekt wollen jetzt 21 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen Monat lang den Fässern, die vermutlich in einer Tiefe von 3.000 bis 5.000 Metern liegen, auf die Spur kommen. Das Suchgebiet befindet sich mehr als 1.000 Kilometer westlich von La Rochelle im Westeuropäischen Becken des Atlantiks.
Es ist das Ziel, die Auswirkungen der Müllentsorgung im Meer neu zu bewerten und die Gesundheit des Ökosystems zu untersuchen. Die Experten planen die Erstellung einer Karte mit Atomfass-Funden sowie die Entnahme von zahlreichen Proben von Wasser, Boden und Tieren. Des Weiteren beabsichtigen sie, ein Referenzgebiet zu untersuchen, um die Ergebnisse später vergleichen zu können.
Das Team erhält Unterstützung von einem autonomen Tauchroboter. Der Roboter Ulyx kann bis zu 6.000 Meter tief tauchen. Neben physischen und chemischen Sensoren verfügt er über eine Kamera für 3D-Bilder und ein Sonarsystem zur Ortung von Gegenständen mit Schall. Die Fachleute möchten mithilfe der Aufnahmen des Roboters die einzelnen Fässer finden, ihren Zustand feststellen und ihre Position markieren. Denn momentan ist nicht bekannt, wo genau sich die Behälter befinden, ob sie einzeln oder in Gruppen liegen und ob sie noch intakt sind.
Um das gesamte Untersuchungsgebiet abzudecken, müsste das Team Jahre brauchen, schätzte Co-Projektleiter Javier Escartin von der Universität ENS Paris. Für die vier Wochen planen sie, ungefähr 200 Quadratkilometer in verschiedenen Zonen zu durchsuchen. Basierend auf den Roboterbildern entscheiden die Wissenschaftler dann, wo genau sie Wasser oder Tiere entnehmen.
Folgen der Lagerung bisher nicht einzuschätzen
Die Forschenden sind auch an der Umgebung des Mülls interessiert – zum Beispiel, ob die Strahlung von Sedimenten blockiert wird oder welche Auswirkungen Tiefenströmungen haben.
Welche Auswirkungen könnten die Fässer haben? «Das ist wirklich unbekannt», sagte Escartin. «Wir kennen noch nicht einmal das grundlegende Ökosystem in der Gegend sehr gut.» Denn die Tiefsee-Ebene sei in großen Teilen unerforscht. Die Erkundung des Gebiets wird aus Sicht des Meeresgeologen daher auch jenseits der Atomthematik von Interesse sein. «Jede Information wird nützlich sein, um das System besser zu verstehen.»
Die gesammelten Proben werden nach der vierwöchigen Mission an verschiedene Labore in Europa geschickt. Die Wissenschaftler planen, eine weitere Seereise zu unternehmen, um gezieltere Proben zu entnehmen. Ein genaues Datum für die zweite Ausfahrt steht noch nicht fest. Escartin hofft, dass es im kommenden Jahr so weit sein wird.