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Was steckt in einem winzigen Würfel Mäusehirn?

Denken, Emotionen, Bewusstsein – wie das Gehirn funktioniert, verstehen wir erst in Ansätzen. Für ein Ministück Hirngewebe haben Forscher nun Zelle für Zelle erkundet, wie sie verschaltet sind.

Die Illustration zeigt eine Untergruppe von mehr als 1.000 der 120.000 Gehirnzellen von einem Teil eines Mäusegehirns, die im Rahmen des MICRONS-Projekts rekonstruiert wurden. Es handelt sich um eine symbolische Darstellung. Es gibt weitaus mehr aufgezeichnete Neuronen als die, die leuchten.
Foto: Clare Gamlin/Allen Institute/dpa

Ein Kubikmillimeter – das entspricht etwa der Größe eines winzigen Mohnsamen. Wie viele Nervenzellen hat wohl ein so kleiner Würfel Mäusegehirn? Unglaubliche 84.000 Neuronen, wie Teams von insgesamt mehr als 150 Forschenden in einer Serie aufeinander aufbauender Studien berichten. Darüber hinaus gibt es etwa eine halbe Milliarde Kontaktstellen zwischen Nervenzellen – Synapsen genannt – und ungefähr 5,4 Kilometer neuronale Verdrahtung.

Das entstandene Schaltbild und die dazugehörigen Daten haben eine Größe von 1,6 Petabyte – was 22 Jahren ununterbrochener HD-Videowiedergabe entspricht, wie es vom beteiligten Allen Institute, einer gemeinnützigen Forschungseinrichtung, heißt. Obwohl nur eine sandkornkleine Gewebeprobe untersucht wurde, helfe der vollständige funktionelle Schaltplan dieses Hirnwürfels zu beschreiben, wie das Gehirn insgesamt organisiert ist und wie verschiedene Zelltypen zusammenarbeiten.

Die Ergebnisse des Gemeinschaftsprojekts «Microns» (Machine Intelligence from Cortical Networks) wurden in «Nature»-Fachjournalen veröffentlicht. Generell bestehen Gehirne aus einem Netzwerk von Zellen, einschließlich der Neuronen, die durch Reize aktiviert und durch Synapsen verbunden werden. Grundlage kognitiver Funktionen ist das Zusammenspiel zwischen neuronaler Aktivierung und der Vernetzung der Zellen.

Ein Pionier hielt das für unmöglich

1979 hatte der berühmte Molekularbiologe Francis Crick (1916–2004) dem Allen Institute zufolge erklärt, es sei unmöglich, einen genauen Schaltplan auch nur für einen Kubikmillimeter Hirngewebe und die Art und Weise, wie alle seine Neuronen feuern, zu erstellen. In den letzten sieben Jahren habe das weltweite «Microns»-Team dieses Ziel nun realistischer werden lassen. Crick hatte mit James Watson und Maurice Wilkins das berühmte Doppelhelix-Modell der Erbgutsubstanz DNA entwickelt, ein Meilenstein in der Biologie.

Die «Microns»-Wissenschaftler zeichneten zunächst mit speziellen Mikroskopen die Aktivität von rund 75.000 Neuronen in einem einen Kubikmillimeter großen Teil des visuellen Kortex einer Maus auf, die über Tage hinweg verschiedene Videoaufnahmen vorgespielt bekam. Das Tier war genetisch so verändert, dass seine Neuronen ein fluoreszierendes Protein aussendeten, wenn sie aktiv waren.

Nachfolgend wurde die Maus getötet und derselbe Kubikmillimeter des Gehirns wurde in etwa 28.000 Schichten – also extrem dünne Scheibchen – zerlegt. Von jeder Schicht wurden hochauflösende Bilder erstellt. Ein anderes Team nutzte Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen, um die Zellen und Verbindungen in 3D zu rekonstruieren.

Bisher größter Schaltplan des Gehirns

Das Allen Institute teilte mit, dass zusammen mit den Aufzeichnungen der Hirnaktivität das Ergebnis der bisher größte Schaltplan des Gehirns war. Es wurden insgesamt mehr als 200.000 Zellen identifiziert, darunter etwa 84.000 Neuronen, 524 Millionen synaptische Verbindungen und mehrere Kilometer Axone – Verzweigungen, die zu anderen Zellen führen. Die gewaltigen Datensätze, insbesondere im Bereich der Axone, werden derzeit weiter überprüft und verbessert.

Die Ergebnisse böten neue Möglichkeiten zur Untersuchung des Gehirns, hieß es von der Forschungseinrichtung. Das betreffe auch Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson, Autismus und Schizophrenie, bei denen die neuronale Kommunikation gestört ist. «Wenn man ein kaputtes Radio hat und den Schaltplan kennt, kann man es besser reparieren», sagte Mitautor Nuno da Costa. In Zukunft könne mit der Blaupause die Gehirnverdrahtung in einer gesunden Maus mit der in einem Krankheitsmodell verglichen werden.

Laut den Teams war eine der überraschendsten Erkenntnisse die Entdeckung eines neuen Hemmungsprinzips im Gehirn. Bisher ging man davon aus, dass hemmende Zellen – also Zellen, die neuronale Aktivität unterdrücken – einfach die Wirkung anderer Zellen direkt dämpfen. In Wirklichkeit ist dies jedoch komplexer: Hemmende Zellen sprechen Zielzellen teilweise sehr selektiv in einem System der Koordination und Kooperation an. Einige hemmende Zellen arbeiten zusammen und unterdrücken mehrere erregende Zellen, während andere präziser nur bestimmte Typen ansprechen, wie die Forschenden erklären.

Abweichungen von Art zu Art und Tier zu Tier?

Die Einschränkungen der Analysen umfassen, dass die Daten von einem einzigen Tier einer einzigen Art stammen und daher zunächst nur begrenzt verallgemeinerbar sind. Außerdem enthielten sie nur wenige Exemplare bestimmter Zelltypen.

Die Forschenden erklären, dass der visuelle Kortex von Mäusen Ähnlichkeiten mit dem anderer Säugetiere, einschließlich des Menschen, aufweist. Es handelt sich jedoch nur um eine kleine Region des Gehirns. Um vollständige Schaltkreise zu untersuchen, sind umfassendere Karten erforderlich – für die jedoch Technik und Methoden erst weiter verbessert werden müssten.

«Trotz dieser Einschränkungen stellt diese Arbeit einen großen Schritt nach vorn dar und bietet eine unschätzbare Gemeinschaftsressource für zukünftige Entdeckungen in den Neurowissenschaften», schreiben Mariela Petkova und Gregor Schuhknecht von der Harvard University in Cambridge in einem begleitenden Kommentar in «Nature». Das «Microns»-Projekt sei der bisher am umfassendsten zusammengestellte Datensatz, der die Gehirnstruktur mit der neuronalen Aktivität eines aktiven Säugetieres verbinde.

dpa