Frauen in Not erhalten seit 10 Jahren die Möglichkeit einer vertraulichen Geburt, um Kindstötungen zu verhindern und eine legale Alternative zu schaffen.
Vertrauliche Geburt in Deutschland: Schutz für Mütter und Kinder
Manchmal ist es die Angst vor dem gewalttätigen Kindsvater, manchmal die vor der eigenen Familie, manchmal liegt eine wirtschaftliche oder psychische Abhängigkeit zugrunde: Einige schwangere Frauen sind in solch großer Not, dass sie ihre Schwangerschaft selbst vor ihrem engsten Umfeld verbergen.
Doch wo soll das Kind dann zur Welt gebracht werden? Und was geschieht mit dem Kleinen danach? Seit zehn Jahren haben Frauen in Deutschland in besonders schwierigen Lebenssituationen die Option einer vertraulichen Geburt.
Die Einführung erfolgte am 1. Mai 2014, um Kindstötungen und -aussetzungen zu verhindern und eine legale Alternative zu Babyklappe und anonymer Geburt zu schaffen. Gleichzeitig erhält das Kind zumindest die Chance, seine eigene Herkunft zu kennen, was nach Meinung von Experten für die Persönlichkeitsentwicklung besonders wichtig ist.
Hilfetelefon «Schwangere in Not»
Erste Anlaufstelle ist das Hilfetelefon «Schwangere in Not», das rund um die Uhr in 19 Sprachen unter 0800 40 40 020 erreichbar ist. Dort wird die werdende Mutter an eine Schwangerschaftsberatungsstelle vermittelt. Deren Mitarbeiterin ist die einzige Person, die die wahre Identität der Betroffenen erfährt, welche ansonsten ein Pseudonym erhält.
Die Personalien der Mutter werden von der Beraterin auf einem Herkunftsnachweis festgehalten, der in einem versiegelten Umschlag zentral aufbewahrt wird. Der Umschlag enthält das Datum und den Ort der Geburt, das Pseudonym der Mutter und den Namen des Kindes. Das Kind wird unmittelbar nach der Geburt in Obhut genommen und nach etwa einem Jahr zur Adoption freigegeben, es sei denn, die Mutter widerruft ihre Anonymität. Mit 16 Jahren hat das Kind das Recht, die persönlichen Daten seiner Mutter zu erfahren, es sei denn, sie widerspricht aus schwerwiegenden Gründen. Im Zweifelsfall entscheidet ein Familiengericht.
Zehn Kinder pro Monat
Laut Bundesfamilienministerium haben bis Februar 2024 insgesamt 1166 Frauen vertraulich ein Kind geboren, was etwa zehn Geburten pro Monat entspricht. Die genauen Zahlen aus den einzelnen Bundesländern liegen dem Ministerium nicht vor, aber die jährlichen Fallzahlen sind dort jeweils sehr niedrig – eine große Herausforderung für das gesamte System vom Rettungsdienst bis zum Standesamt. In Bayern, dem flächenmäßig größten Bundesland mit der zweitgrößten Bevölkerung, wurden beispielsweise laut Familienministerium des Landes im Jahr 2022 nur 17 vertrauliche Geburten registriert.
«Die Gründe für eine vertrauliche Geburt sind ganz verschieden und sehr individuell», resümiert Evi Kerkak, Fachbeauftragte von Donum Vitae in Bayern. Der auf Schwangere in Konfliktsituationen spezialisierte Verband war mit seinem «Moses-Projekt», in dessen Rahmen Frauen im Freistaat schon seit 1999 völlig anonym gebären können, bundesweiter Vorreiter, was letztlich der vertraulichen Geburt den Weg geebnet hat.
Angst und Scham
«Die Erfahrung zeigt, dass das Thema Angst riesig ist», schildert Kerkak. Da ist etwa die junge Frau, die fürchtet, bei Bekanntwerden der Schwangerschaft in das Heimatland ihrer Eltern zwangsverheiratet zu werden. Oder die werdende Mutter, der der anderweitig verheiratete Kindsvater die Ermordung des Kindes androht, sollte sie es nicht abtreiben. Andere Betroffene fürchten, ihre wirtschaftliche Existenz zu verlieren oder das Familiengefüge zu zerstören.
«Scham ist ein zweiter Grund», zählt Kerkak auf. Etwa bei Müttern, die bereits Unterstützung vom Jugendamt bekommen und nun ungeplant erneut schwanger sind. Oder die vergewaltigt wurden. Ein dritter Grund seien psychische Erkrankungen. Der Gedanke der Betroffenen: «Ich kann nicht mal für mich sorgen, wie soll ich für ein Kind sorgen können?»
Ein reguläres Adoptionsverfahren kommt als Alternative häufig nicht infrage, weil es in weiten Teilen der Gesellschaft geächtet ist und zudem verschiedene Stellen – von der Krankenkasse bis zum Notar – von der Geburt erfahren. «Der Wunsch nach Anonymität ist oft nicht dem Kind gegenüber, sondern der Umgebung», betont Yvonne Fritz vom Sozialdienst katholischer Frauen.
«Bestmöglicher Kompromiss»
Die Expertinnen aus der Praxis befürworten das Konzept der vertraulichen Geburt daher unisono als «bestmöglichen Kompromiss», auch wenn es die meist im Affekt begangenen Kindstötungen oder -aussetzungen kaum vermeiden könne. Doch es gibt auch Kritikpunkte: So bleibe etwa Frauen, die keine gültigen Ausweispapiere haben oder sich illegal in Deutschland aufhalten, nur die noch immer in einer rechtlichen Grauzone angesiedelte anonyme Geburt. Auch sei weder geregelt noch finanziert, wie die Schwangeren zu ihrem eigenen Schutz vor der Geburt außerhalb ihres Umfeldes untergebracht werden könnten.
Auch könnten Mütter davon abgehalten werden, ihr Kind doch noch anzunehmen, weil dann die Kosten für die Geburt anfallen – aber nicht alle Betroffenen eine Krankenversicherung haben. «Und es wird von vielen Seiten gefordert, dass es ein klares Zeitfenster gibt, nach dem das Kind zur Adoption freigegeben wird», zählt Kerkak auf.
Nach zehn Jahren ist es den Fachfrauen immer noch wichtig, dass Mütter, die ihr Kind in gute Hände geben, mehr Anerkennung erhalten. Dadurch würden sich viel mehr Frauen für eine offizielle Adoption mit all ihren Vorteilen für Mutter und Kind entscheiden, anstatt sich für eine vertrauliche oder gar komplett anonyme Geburt zu entscheiden.
«Fast alle Frauen in der Beratung sagen, das Wichtigste ist mir, dass es dem Kind gut geht, und denken zugleich, sie wären wahnsinnig schlechte Mütter», schildert Heike Pinne vom Beratungsstellen-Verbund pro familia. «Dabei sorgen sie dafür, dass ihr Kind an einen guten Ort kommt. Denen gebührt allerhöchster Respekt und nicht Stigmatisierung.»