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Freiraum für den Frust: Warum man in Wuträumen prügeln will

In sogenannten Rage Rooms bezahlt man Geld, um Dinge zertrümmern zu dürfen. Ist das nur ein skurriler Freizeitspaß? Oder erfüllt es eine Funktion in einer neuen Wut-Gesellschaft? Ein Besuch.

Gleich werden Scherben und Splitter fliegen: Zwei Kunden haben den Wutraum betreten.
Foto: Fabian Strauch/dpa

Dirk Jaresch kennt die Vorlieben seiner Kundschaft. Sehr beliebt sind insbesondere alte Röhrenfernseher. «Die stehen so ein bisschen unter Druck und platzen dann so richtig mit einem Knall», erklärt der 64-Jährige. Ähnliches gilt für Glasbausteine, diese dicken, durchsichtigen Quader aus dem Hausbau. «Die ploppen auch so auf», sagt Jaresch, der vor einem grauen, scheußlich eingerichteten Raum ohne Fenster steht. Er spricht wie jemand, der einen guten Wein empfiehlt. Dabei geht es nur um eins: Zerstörung.

Jaresch betreibt in Hattingen im Ruhrgebiet sogenannte Rage Rooms, auch Wuträume genannt. Wer zu ihm kommt, möchte Dinge zerstören sehen. Man bucht ein Zeitfenster (ab 117 Euro aufwärts), bekommt Schutzausrüstung und kann auf alles eindreschen, was Jaresch zuvor in den Räumen drapiert hat. Geschirr, Waschmaschinen, Regale, was auch immer.

Das Konzept ist nicht neu, es soll ursprünglich aus Japan stammen und es gibt bereits einige Einrichtungen in Deutschland. Aber Jaresch ist noch relativ neu auf dem Markt, seit Mitte 2023 – und sieht sich als Teil eines Trends. Anfang 2023 sah er einen Spielfilm, in dem ein Hotelzimmer zerstört wurde. Das löste eine Gedankenkette aus. «Ich hab’ gedacht: Das ist vielleicht eine Idee, da ja Wut und Aggression in unserer Gesellschaft immer größer werden», sagt Jaresch. Er hatte das Gefühl, dass etwas in der Luft liegt. Durch die Nachfrage fühlt er sich bestätigt.

Tatsächlich gibt es wenige Gefühlsregungen, denen in den vergangenen Jahren so nachgeforscht wurde wie der Wut. Im politischen Diskurs, auf der Straße, an der Wursttheke im Supermarkt – überall wird sie diagnostiziert. Wäre Donald Trump ohne Wut ins Weiße Haus eingezogen? Der «Wutbürger» steht mittlerweile im Duden («aus Enttäuschung über bestimmte politische Entscheidungen sehr heftig öffentlich protestierender und demonstrierender Bürger»).

Schlechte Erfahrungen mit Golfschlägern

Diese eher theoretischen Betrachtungen sind in Dirk Jareschs «Randalezentrale» – so heißt sein Betrieb (Claim: «Mach kaputt, was kaputt macht») – recht weit weg. Es geht um sehr praktische Fragen, etwa die nach dem richtigen Werkzeug. An der Wand hängen Baseballschläger, Eisenstangen, Vorschlaghammer. Mit Golfschlägern hat man schlechte Erfahrungen gemacht: «Die halten einfach nicht.»

Viele seiner Kunden kämen mit «’nem Grund», sagt Jaresch. «Erzieherinnen, Krankenschwestern, denen der Job bis Oberkante Unterlippe steht.» Manchen sei auch «der Partner abgehauen». 70 Prozent seien Frauen. Jaresch lernt in seinen Räumen viel über Menschen und ihre Denkmuster. Männer – er ist da sehr genau – etwa würden mitunter sogar versuchen, Autoreifen zu zerschlagen. Natürlich komplett erfolglos.

Die Räume versprühen den Charme eines Kellers, eher eines Verlieses. Ein Ort, der tief und verborgen liegt. Früher war das Gebäude mal ein Bunker. «Der wurde im Zweiten Weltkrieg auch angegriffen, weil hier in der fünften, hier drüber, war ‘ne Flak-Stellung», erklärt Jaresch.

Wir lernen Wut zu unterdrücken

Wut oder Ärger gehörten zu den sogenannten Grundemotionen, sagt der klinische Psychologe André Ilcin. Sie seien intuitiv angeboren. «Unterschiedlich ist allerdings, wie sich diese Grundemotionen im Laufe des Lebens entwickeln und Folgeemotionen heranreifen. Denn über die Zeitspanne des Lebens wird der Umgang und die Regulierung der Emotionen durch gesellschaftliches Normen geprägt», erklärt Ilcin, der am Psychologischen Versorgungszentrum cura-animi arbeitet. Weil Wut oft negativ gesehen werde, lerne man in unseren Breitengraden häufig, sie zu unterdrücken.

Diese rein negative Betrachtungsweise sei aber eigentlich nicht richtig. «Ich würde psychotherapeutisch sagen, dass sie weder positiv noch negativ ist», sagt Ilcin. Man benötige Wut etwa auch, um sich zu verändern. Sie versetze in einen aktiven Modus. Je nachdem, wie man gelernt habe, Wut zu kanalisieren, könne sie aber auch zu dysfunktionalen Handlungen führen. Ein Grund für das schlechte Image.

Wuträume seien Orte, an denen Menschen einen Kanal bekämen, um mal «Druck aus dem Kessel» zu nehmen, sagt Ilcin – ohne Schuldgefühle. Das könne tatsächlich zu Entlastung führen. «Langfristig ist es natürlich so, dass sich Probleme nur lösen lassen, wenn wir die Wurzeln der Wut, also das, was uns wütend macht, angehen», sagt Ilcin, der auch Experte des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen ist. Im Sinne des Stressmanagements immer wieder in Rage Rooms zu gehen, sei nicht so ratsam.

«Das macht man ja sonst nicht»

«Dann würde ich aus psychologischer Sicht die Gefahr sehen, dass der Körper irgendwann Aggressionsabbau mit Zerstörung und Gewalt verkoppeln könnte», sagt der Psychologe. Plötzlich sei man in einer ganz anderen Situation, zum Beispiel in der eigenen Wohnung. «Und das Gehirn meldet: Wirf die Kaffeetassen gegen die Wand.»

Bei Dirk Jaresch sind gerade viele Tassen zu Bruch gegangen. Eine Kundin und ihr Sohn kommen aus dem Wutraum, sie haben alles kurz und klein geschlagen. Am liebsten habe sie auf die Waschmaschine eingeprügelt, sagt sie. Das habe etwas Befreiendes gehabt. «Das macht man ja sonst nicht», sagt sie. 

Was ist sie von Beruf? Sie muss lachen. «Schulsozialarbeiterin.»

dpa