Die Ungleichheit in Deutschland hat laut einer Untersuchung der Böckler-Stiftung seit 2020 zugenommen. Immer mehr Menschen sorgten sich deshalb um ihren Lebensstandard – auch in der Mittelschicht.
Studie sieht wachsende Abstiegsängste wegen steigender Armut
Laut einer Analyse führen zunehmende Einkommensungleichheit und wachsende Armut in Deutschland zu einer Zunahme von Abstiegsängsten. Der Anteil der von Armut betroffenen Menschen hat zugenommen und erreicht einen Höchststand, wie aus dem Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hervorgeht.
Die wirtschaftliche Situation hat sich aufgrund der Coronakrise und der hohen Inflation in letzter Zeit erheblich verschlechtert. Laut den Angaben sind die Sorgen um die Zukunft und die Ängste vor Abstieg stark angestiegen und betreffen auch die Mittelschicht. Mehr als die Hälfte der Menschen in der unteren Einkommensgruppe befürchtete im vergangenen Jahr, ihren Lebensstandard nicht halten zu können.
Die Wissenschaftler beziehen sich auf eine Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung. In diesem Rahmen wurden jeweils im Jahr 2020 und 2023 über 4.000 Personen repräsentativ befragt.
Laut Studienautorin Dorothee Spannagel ist die Gruppe der Armen größer geworden und im Vergleich zur gesellschaftlichen Mitte noch ärmer. Der Gini-Koeffizient, ein Indikator für Ungleichheit, stieg laut Bericht zwischen 2010 und 2021 von 0,282 auf den Höchstwert von 0,31. Für die Analyse wurden Einkommensdaten aus dem jährlich erhobenen sozio-oekonomischen Panel von 2021 verwendet.
Im Jahr 2021 lebten 17,8 Prozent der Menschen in Deutschland in Armut, 2010 waren es noch 14,2 Prozent. Als arm gilt, wessen Haushaltsnettoeinkommen weniger als 60 Prozent des Einkommensmittelwerts beträgt. Für einen Singlehaushalt liegt die Grenze laut WSI bei maximal 1.350 Euro im Monat, für einen Vier-Personen-Haushalt mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2.830 Euro.
Teil der Menschen wendet sich vom politischen System ab
Laut Experten beeinflussen die Zukunftsängste der betroffenen Bürger das Vertrauen in staatliche und politische Institutionen negativ. Weniger als die Hälfte der Armen und Menschen mit prekären Einkommen glauben, dass die Demokratie in Deutschland insgesamt gut funktioniert. Etwa ein Fünftel hat nur wenig Vertrauen in das Rechtssystem. Die Betroffenen fühlen sich nicht in der Lage, ihre Anliegen bekannt zu machen.
«Wir sehen in den Daten, dass Deutschland in einer Teilhabekrise steckt, die sich in den vergangenen Jahren verschärft hat», sagt WSI-Forscherin Spannagel. Ein Teil der Menschen wende sich deshalb «relativ deutlich vom politischen System ab».
Um der Entwicklung entgegenzuwirken, plädieren die Autoren für eine Stärkung diverser Institutionen. Hierzu gehören Tarifverträge, die gesetzliche Rente sowie die öffentliche Infrastruktur wie Verkehrswege, Energienetze, Bildungs- und Gesundheitssystem. Eine effektivere Besteuerung sehr großer Vermögen würde laut den Autoren zur Finanzierung beitragen, zusätzlich zu einer Reform der Schuldenbremse.