Mobiles Menü schließen
Startseite Schlagzeilen

Grundgesetz: Lehren aus Weimar und aktuelle Herausforderungen

Deutschland erinnert sich an die Gründung der Bundesrepublik vor 75 Jahren und steht vor neuen demokratischen Herausforderungen.

Wurde vor 75 Jahren beschlossen und am 23. Mai offiziell verkündet: das Grundgesetz.
Foto: Julian Stratenschulte/dpa

Die Pädagogische Akademie in Bonn schien in der Ruinenlandschaft, die Hitlers Weltkrieg in Deutschland hinterlassen hatte, wie ein Ufo von einem fernen Planeten, der menschlichen Zivilisation um Zeitalter voraus. Von 1930 bis 1933 im nüchternen Bauhausstil errichtet, war die Akademie durch Zufall vom Bombenhagel verschont geblieben.

Es hätte keinen geeigneteren Ort für den Parlamentarischen Rat gegeben, der hier vom 1. September 1948 bis Mai 1949 das Grundgesetz für eine neue deutsche Demokratie ausgearbeitet hat. Heute vor 75 Jahren wurde es beschlossen und am 23. Mai offiziell verkündet.

Lehren aus der Geschichte

Der zweite Versuch der Deutschen, eine Demokratie zu etablieren, folgte auf das Scheitern des ersten Versuchs im Jahr 1933 mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Die Verfasser des Grundgesetzes wollten aus diesem Desaster lernen, darunter die Entscheidung, das Staatsoberhaupt in eine deutlich schwächere Position zu bringen. Während der Weimarer Republik war der Reichspräsident eine Art Ersatzkaiser, der direkt gewählt wurde und über umfangreiche Befugnisse verfügte, was maßgeblich zur Destabilisierung der Demokratie in der Endphase beitrug.

Eine zweite Lehre war die Einführung des konstruktiven Misstrauensvotums: Ein Kanzler sollte nur noch dann gestürzt werden können, wenn sich das Parlament gleichzeitig auf einen neuen einigen konnte. In der Weimarer Republik war das nicht so gewesen, was den Eindruck der Lähmung verstärkt hatte. Mit am wichtigsten: Auch auf Drängen der westlichen Besatzungsmächte wurden die Grundrechte ganz nach oben an den Anfang des Textes gesetzt. Und es wurde ein wirkmächtiges Verfassungsgericht begründet. «Es bringt das Grundgesetz zum Sprechen und wendet es auf neue Lebensumstände an», sagt der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP).

Das und mehr sind Reaktionen auf Weimar. «Gleichwohl muss man sagen, dass die Mär, die viele Jahre in Deutschland verbreitet wurde, dass Weimar nämlich an seiner Verfassung gescheitert sei, nicht haltbar ist», sagt Andreas Voßkuhle, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, der Deutschen Presse-Agentur. «Weimar fehlte es vor allem an Demokraten – Personen, die sich mit der demokratischen Verfassung identifizierten.»

Elemente der wehrhaften Demokratie

Mit der Erfahrung des Nationalsozialismus noch unmittelbar vor Augen bauten die Verfasser des Grundgesetzes viele Elemente der wehrhaften Demokratie in die neue Staatsordnung ein. Dazu gehören hohe Hürden für Parteiverbote, für die Aberkennung von Grundrechten oder eine Veränderung des Grundgesetzes in essenziellen Punkten. «Aber wir müssen auch hier feststellen, dass es keine völlige juristische Absicherung der Demokratie gibt», so Voßkuhle. «Letztlich kommt es darauf an, inwieweit die Bürgerinnen und Bürger die demokratische Ordnung unterstützen. Zurzeit beobachten wir weltweit einen Trend zu einer elektoralen Autokratie.»

Das Ungarn von Viktor Orban und das Polen unter der früheren nationalkonservativen PiS-Regierung sind Beispiele dafür, wie die Meinungsvielfalt systematisch eingeschränkt, Medien gleichgeschaltet und Gerichte als Kontrollinstanzen geschwächt werden. Es gibt zwar noch Wahlen, aber die Regierung versucht sicherzustellen, dass sie die Macht nicht verliert. Voßkuhle zweifelt nicht daran, dass dies auch in Deutschland in gewissem Maße möglich wäre.

Wie kann das Bundesverfassungsgericht besser geschützt werden?

In Anbetracht dieser Situation wird bereits seit geraumer Zeit darüber diskutiert, wie das Bundesverfassungsgericht besser vor Demokratiefeinden geschützt werden kann. Speziell geht es darum, die Amtszeit der Verfassungsrichter im Grundgesetz zu verankern: Dies könnte verhindern, dass sie bei einem Wechsel der Regierung Richter relativ leicht abberufen werden könnten.

«Demokratien haben stets auch die Neigung, sich gegen sich selbst zu wenden», meint Voßkuhle. Aufseiten der Bürgerinnen und Bürger gebe es immer ein gewisses Misstrauen, ob die Politiker ihre Wahlversprechen einhielten und sich nicht von egoistischen Motiven leiten ließen. Und umgekehrt seien die Politiker immer der Versuchung ausgesetzt, sich nicht mehr an die Spielregeln zu halten, wenn sie erst einmal gewählt seien. «Deshalb wird über die Ausgestaltung der Demokratie immer gerungen. Das kann gar nicht anders sein. Ich warne auch davor zu glauben, dass es einmal so etwas wie ein Goldenes Zeitalter der Demokratie gegeben hat.»

Zeitzeugen: Demokratie heute von Gleichgültigkeit bedroht

Heutzutage gibt es nur noch wenige Menschen, die sich an die Gründung der Bundesrepublik vor 75 Jahren erinnern können – und damit auch noch an den Krieg und den Holocaust. Voßkuhles Vater, der 2010 verstarb, war einer von ihnen – er war im Zweiten Weltkrieg Offizier. «Wieviele Nächte sind wir zusammengesessen und haben über den Nationalsozialismus gesprochen?», erinnert sich der heute 60 Jahre alte Sohn. «Das fällt mittlerweile weg.» Und damit verschwindet auch ein gewisses Maß an Sensibilität dafür, dass es nicht selbstverständlich ist, in einer Demokratie zu leben. Ähnlich sieht es der 91 Jahre alte Gerhart Baum, der durchaus noch Erinnerungen an den Krieg hat. «In der Tat geht Sensibilität verloren, wenn sie nicht immer wieder aktiviert wird», sagt er der dpa. Die Demokratie werde heute nicht nur von Verfassungsfeinden bedroht, sondern vor allem auch von Gleichgültigkeit.

Voßkuhle erzählt von einer Untersuchung, die er neulich gelesen hat: «Der amerikanische Politikwissenschaftler Adam Przeworski hat festgestellt, dass zwischen 1788 und 2008 die Macht 554 Mal durch Wahlen und 577 Mal durch einen Umsturz in andere Hände überging und dass 68 Länder, darunter Russland und China, noch nie einen Regierungswechsel zwischen Parteien infolge einer Wahl erlebt haben.» In Westdeutschland gibt es die Demokratie jetzt seit 75 Jahren, in Ostdeutschland seit 34. Eigentlich sind das noch keine langen Zeiträume – und doch scheint sich bei vielen Wählern eine gewisse Unbekümmertheit breitzumachen.

«Wir sind jetzt in der bedrückenden Situation, dass wir in einigen Bundesländern erwarten müssen, dass die AfD stärkste Partei im Parlament wird – eine Partei mit einem problematischen Verständnis von Demokratie», sagt Voßkuhle. «Das wäre eine Zäsur. Das würde das politische System verändern. Insofern sind wir gerade in einem Moment, in dem die Situation kippen könnte.» Das Jahr des Grundgesetz-Jubiläums dürfte ein entscheidendes werden in der Geschichte der bundesdeutschen Demokratie.

dpa